Man sollte sparsam mit einem Begriff wie “legendär” umgehen. Wenn jemand allerdings vor längerer Zeit mit etwas wirklich Ungewöhnlichem beeindruckte und sich seit dem immer wieder rar gemacht hat, ohne vollends von der Bildfläche zu verschwinden, kann man eine Ausnahme machen. Der heute 87jährige Bob Rutman kann eine bewegte Biographie erzählen. Als Kind floh er mit seiner Familie aus dem damals naziverseuchten Berlin über Polen nach England und emigrierte schließlich in die USA. Mit der Zeit avancierte er zu einer schillernden Figur der New Yorker Avantgarde, die er mit seinen bruitistischen Metallskulpturen visuell und musikalisch bereicherte.
Seine bekannteste Errungenschaft sind die raumgreifenden Steel Cellos, mit einem herkömmlichen Geigenbogen gespielte, leicht gebogene Stahlplatten, mit denen er eine Musik spielt, bei der industrieller Lärm, rituelle Folksounds und bizarre Jazzballaden zusammenkommen, die die den Konzerten schon durch ihre reine Präsenz einen multimedialen Installationscharakter verliehen. Sein Mitte der 70er in Boston gegründetes, personell wechselhaftes US Steel Cello Ensemble ist um ihn und dieses Instrument gruppiert und ergänzt den stählernen Cellosound v.a. mit Bow Chimes und Gesang. Im Mai 1989 gastierte das damals aus Rutman, Mitgründer Daniel Orlansky, Stephanie Wolff und Alex Dorsch bestehende Ensemble in der Kreuzberger Passionskirche und spielte live sein erstes Album “Noise In The Library” ein.
Der knapp viertelstündige Opener “Obertongesang mit klingender Skulptur”, der die Hälfte der ersten Seite füllt, offenbart sein Konzept bereits im lakonischen Titel. Über weite Strecken bildet Rutmans eigener, an tibetische Ritualmusik, wie sie heute von Gruppen wie Phurpa und Bön gespielt wird, orientierter Gesang mit dem flächigen Sound der bearbeiteten Skulpturen eine mehrschichtige, aber dennoch organisch wirkende Einheit: ein tiefes, raues Brummen, das erdend, sammelnd und je nach Gemüt natürlich auch unheimlich wirken kann. Irgendwann scheint die Musik immer mehr im Rauschen zu diffundieren, und der grauenNebel gebiert das helle Toning einer Sängerin: ein berührender, psychedelischer Obertongesang, der mit Rutmans Beitrag in einen Hell-Dunkel-Kontrast tritt und bei dem höhere Semester unter den Industrial-Nerds vielleicht an die Sopraneinlagen bei den Ain Soph der späten 80er denken. Sängerin Stephanie Wolff hat sich über die Jahre nur wenig zu Wort gemeldet, zuvor tauchte ihre Stimme nur bei den Krautrockern von Brainticket auf.
Im folgenden Titeltrack bekommt eine Bibliothek die Aura eines weiträumigen, kühlen Tempels, in dem metallenes Klingeln und ambiente Bogenarbeit von den Wänden hallen und der Raum selbst mit seiner Ausdehnung der Musik seine Signatur einschreibt – ungeachtet der Tatsache, dass es die Signatur einer Berliner Kirche ist, lässt die Idee einer Bibliothek (auch) die Vorstellung eines großen Mosaiks aus Traditionen und Referenzen von Folk bis zu allen Arten von Noise zu, die auch dieses zunächst gleitende, später stürmisch ratternde, schwebende und detonierende Stück durchdringen. Beim die ganze zweite Seite füllenden “Bow Chime Quartet” rücken Rutmans Mitstreiter etwas näher an den vorderen Bühnenrand, und so entsteht ein von kreisenden Bewegungen, rauen und harmonischen Episoden, Momenten an der Grenze zur Stille und subtilen Übergängen geprägtes Stück.
Rutman lebt seit Jahren wieder in seiner Geburtsstadt Berlin und ist hier ein regelmäßiger Gast auf großen und kleinen Bühnen, die er sich als leidenschaftlicher Jammer immer wieder mit Kollegen…. teilt. Dass der vorliegende Klassiker als LP wieder zugänglich gemacht wurde, war höchste Zeit. (U.S.)
Label: Putojefe Records