MAURICE LOUCA: Elephantine

Elephantine ist ein geschichtsträchtiger Ort, trägt die karge Nil-Insel nahe der oberägyptischen Stadt Assuan und dem großen Staudamm doch Spuren, die mehr als viertausend Jahre in die Vergangenheit zurückreichen. Lange markierte das kleine Eiland die Grenze zwischen Ägypten und Nubien, seit Beginn der Besiedlung gab es dort größere Kultstätten, was für die Bedeutsamkeit des Ortes spricht. Beliebt ist Elephantine heute nicht nur bei Archäologen, sondern auch bei Reisenden aller Art, und am meisten mit ihren Gegebenheiten zu arrangieren wissen sich vermutlich die Einheimischen, die in kleinen Ortschaften größtenteils ein eher traditionelles Leben mit Landwirtschaft und Handwerk führen.

Wer das Arabische beherrscht, bekommt in den Songs des nach der Insel benannten Albums vielleicht den einen oder anderen Hinweis darüber, welchen Bezug der aus Kairo stammende Maurice Louca zu dem Ort knüpft, ob er Erinnerungen an ihn verarbeitet oder ihm aus irgendeinem Grund eine individuelle musikalische Signatur geben will – für alle, die darauf angewiesen sind, die Musik für sich sprechen zu lassen, hat die eher diffuse atmosphärische Verbindung einen besonderen Reiz, denn im Verlauf des Albums wird Elephantine immer mehr zum Schauplatz für kleine, auditive Roadmovies, deren Fokus sich entspannt verbummelt dem Fluss der Ereignisse überlässt, bis irgendwann, heimlich vorbereitet durch kleine versteckte Disharmonien, alles in einen von entgrenzten Saxophonen untermalten Strudel gerät, aus dem es kaum ein Entkommen gibt.

Louca, der neben seinen Solowerk in Gruppen wie Bikya, Lekhfa, Alif und Dwarfs of East Agouza zeitgenössischer Musik zwischen experimentierfreudigem Pop und traditioneller Musik in freiestmöglicher Form spielt, hat seinen eigenen Namen besonders durch sein international gefeiertes Album “Salute the Parrot” bekannt gemacht, das zwischen psychedelischer Elektronik und aufpeitschenden nordafrikanische Rhythmen changierte. Nicht dass auf “Elephantine” gar keine Elektronik zu hören und kein Groove zu spüren wären, aber im direkten Vergleich zum Vorgänger ist sein Sound stark akustisch dominiert, vereint Folk- und an Blues erinnernde Elemente mit nur zum Teil nordafrikanischer Prägung und erinnert besonders in den Downtempo-Momenten an eine taghelle Form des Doomjazz.

In einigen der von Akustikgitarre dominierten Tracks herrscht durch den beiläufig tastenden Verlauf eine erwartungsvolle Stimmung, in “The Leper” wird diese durch spannungsgeladene Beckenanschläge unterfüttert, bis ziehende Bläserparts an der Grenze zum Atonalen und eine Reihe an klingelnden, rasselnden Beigaben immer mehr Unordnung, aber auch mehr Leben einbringen. Der Titelsong beginnt mit Westerngitarre und erfindet, nach einigen aufrüttelnden Perkussionseinlagen, ganz beiläufig den genügsamen Flaneur bar jeder Blasiertheit neu. In “One More for the Gutter” ist der Blues mit Händen zu greifen, doch die coole Siestastimmung wird schnell durch eine unterschwellige Unruhe, später durch ein quietschendes Tenorsaxophon und plötzliche Detonationen aufgemischt, bis alles in zerfledderter Atonalität mündet, in der nur noch wahnwitzige Repetitionen einen Anschein von Ordnung wahren. Man mag hierbei an die etwas weniger harmonischen Arbeiten Morricones oder an Eddie Gales Ghetto Music denken.

Doch einige Stücke gehen über dies hinaus, und am meisten fallen sicher “The Palm of a Ghost” und der funky Schlusstrack “Al Khawaga” aus der Reihe. Während letzterer weitaus räudiger mit den üblichen Zutaten hantiert, ist das balladeske “The Palm…” ein Höhepunkt an subtil durchbrochener Schöngeistigkeit. Subtil durchbrochen deshalb, weil sich schon im besinnlichen Saitenspiel einer Oud kleine Monotonien einschleichen und latente Disharmonien einbringen, die sich auch in den Streicherparts und im herb-schönen Gesang Nadah El Shazlys findet und in all dem für einen tiefergehenden Wohlklang sorgen.

Elephantine entstand 2017 in Stockholm in Zusammenarbeit mit einem internationalen Ensemble an Gastmusikern, die dem Anschein nach immer die Balance zwischen planvoller Arbeit und spontaner Improvisation halten. Das das Ganze dabei beinahe wie aus einem Guss klingt, ist eine beachtliche Leistung und rückt das Werk ähnlich seine Vorgängern nah an Loucas Bandprojekte. (U.S.)

Label: Northern Spy / Sub Rosa