CHRISTOPHER SLATSKY: The Immeasurable Corpse Of Nature

Gerade im angloamerikanischen Raum gibt es das Narrativ, dass das, was gemeinhin weird fiction genannt wird, in ein goldenes Zeitalter getreten sei und es eine Vielzahl von talentierten Autoren und Autorinnen und ambitionierte (Klein-)Verlage gebe. Das ist sicher zu einem großen Teil richtig, gleichzeitig hat man aber manchmal den Eindruck einer kleinen Szene, in der jeder jeden kennt und (deswegen) jedes noch so mediokre Buch als ein Meisterwerk (an-)gepriesen wird. Zudem scheint das Label philosophischer Horror für manche Autoren, die in Anlehnung an Thomas Ligotti schreiben, häufig ein Euphemismus dafür zu sein, dass man unfähig ist, eine zusammenhängende Geschichte zu verfassen.

2015 war Slatskys erste Zusammenstellung Alectryomancer and Other Weird Tales veröffentlicht worden, der Nachfolger kommt nun bei dem kleinen Verlag Grimscribe Press heraus, der von Jon Padgett (Thomas Ligotti Online) geführt wird, der schon seinen eigenen Beitrag zur unheimlichen Literatur beigesteuert hat. Slatsky hat im Vorfeld der Veröffentlichung viel Lob bekommen und seine zweite Sammlung ist tatsächlich eine sehr starke Zuammenstellung, auf die die eingangs genannte Kritik erfreulicherweise überhaupt nicht zutrifft. Slatsky bewegt sich in The Immeasurable Corpse Of Nature souverän durch verschiedene Gattungen und verschiedene Zeiten („From a People of Strange Language“, in dem es um die Sprache der Toten geht, ist als Einakter angelegt, das im 19. Jahrhundert angesiedelte „Devils Gonna Catch You in the Corners“ besteht aus einer Reihe von Tagebucheinträgen; zudem finden sich nichtfiktionale Texte, u.a. über „The Numinous in God, Nature, and Horror“).

Die erste Kurzgeschichte „Phantom Airfields“ thematisiert den Verlust eines Kindes und die Trauer des Vaters und erinnert in der Darstellung des Schmerzes im Rahmen einer unheimlichen Geschichte an den viel zu früh verstorbenen Joel Lane. Der Protagonist kommt zu der Erkenntnis: „The world dilapidates. Everyone will vanish into nothingness. Children are taken away from bathroom rest stops.“ In „Engines of the Ocean“ bekommt die Protagonistin Cordelia einen vor Jahrzehnten an ihren inzwischen verstorbenen Vater adressierten Brief zurück, auf dem eine scheinbar echte Nachricht ihres Vaters zu sehen ist. Sie fährt an ihren Heimatort und findet diesen in einem seltsamen Limbus. Atmosphärisch erinnert das dargestellte Szenario an „Silent Hill“. „The Carcass of the Lion“ handelt von der Freundschaft zweier Frauen, Hazel und Sylvia, es geht um Krankheit und am Rande um häusliche Gewalt. Die Veränderungen an und in den Bienenstöcken, die man sicher als Analogie zur Krebserkrankung Hazels lesen kann, lassen an „The Colour Out of Space“ denken, wenn auch hier die Metamorphosen ambivalenter wahrgenommen werden, wenn Sylvia fast gnostisch feststellt: „The comb was a subversion of design from the undesigned, patterns boiling from the patternless, exhibiting glory in such beauty. She wept at God’s terrible inventions. If the world was intentional, it had been formed maliciously, the maker intent on antagonizing its handiwork.”

Die im frühen 20. Jahrhundert spielende Geschichte “The World is Waiting for the Sunrise” zeigt Spiritismus und wie versucht wird durch eine Séance den Tod des eigenen Kindes zu bewältigen. Erfährt man im Verlauf des Textes, wie man Ektoplasma vortäuschen kann und glaubt man, es mit Charlatanerie zu tun zu haben, wird plötzlich alles (scheinbar?) umgekehrt und die Geschichte endet todtraurig und mit einem wahrlich grauenhaften letzten Satz. In „Palladium at Night“ macht sich die Hauptfigur Irepani mit seinem Hund zu einem entlegenen Turm auf, dem Leman fire lookout tower, und wird dort mit den Auswirkungen eines fehlgeschlagenen “okkulten” Militärexperiments konfrontiert. Irepani wird Zeuge eines apokalyptischen Szenarios kosmischer Dimensionen, das an Hodgsons The House on the Borderland erinnert: „Galaxies decomposed, dead dwarf stars sputtered out […] What could no longer be called time passed nonetheless, replaced by a cold, lightless void with no activity save for perpetual dilapidation, existence dwindled into inert useless particles.“ Die alliterierende Geschichte „Professor Cognoscente’s Caliginous Charms Carnival“ ist ein Spiel mit Topoi unheimlicher Literatur, wie dem “verbotenen” Buch (Slatsky erschafft hier (das deutsch betitelte) Wirkungen der Leiche und verweist auf Autoren mit so unaussprechlichen Namen wie Ah Uincir Dz’acab). Auch hier findet sich eine Evokation kosmischen Horrrors: „The crowd stares into the carnival of the night sky, a vast region populated by bulbous objects tented by a smattering of stars. The spiral arms of galaxies pinwheel around dense, bloated masses, shadows cavort in space, pursuing voracious grinning things.“ In „The Anthroparian Integration Technique“ besucht die suizidale Hauptfigur Bian einen Arzt, der seine Praxis „at the end of a lonely strip mall, the last retail building on the outskirts of town“ hat. Das erinnert an Ligottis “degenerate little towns”. Bian unterzieht sich der titelgebenden Therapie des Dr. Silvert und kommt zu der Erkenntnis: “The World was brute force, elegant in its efficiency. Chaos blundered its way through space with wanton cruelty, tossing aside the toys of Creation.”

„The Figurine“ verbindet die Trauer eines Bruders, dessen jüngere Schwester bei einem der ubiquitären school shootings (auch wenn ein Geistlicher zu dem Protagonisten sagt: „School shootings are rare, statistically speaking.“) ums Leben gekommen ist, mit Folk Horror-Elementen und Missbrauch. In einem Genre, in dem unzuverlässige Erzähler (wie paradigmatisch in Poes „The Tell-Tale Heart“) nicht selten sind, bietet sich die Demenz als Thema geradezu an. Reggie Oliver hatte in „Flowers of the Sea“ die mentale und künstlerische Desintegration einer Malerin thematisiert. Slatskys „SPARAGMOS“ zeigt einen sich in Demenz verlierenden Protagonisten („Without memory, the world had no meaning.“), der sich mit einem vielleicht nicht nur metaphorischen Labyrinth konfrontiert sieht. Er entdeckt Menschen, die nur noch Hüllen sind: „The substance was papery, crackling slightly. It looked to have once been whole, but was now dismembered, torn into the flabby outline of a face with vacant eyeholes, a hollow arm, an impression where it once connected to a hip.” “Queer Woman Surgeon” verwendet Motive japanischer Horrofilme. Die Titelnovelle, die den Massensuizid eines antinatalistischen Kults zum Thema hat, ist (auch) eine Diskussion gegenwärtiger antinatalistischer Diskurse: „by condemming a mind that experiences suffering, by saying consciousness is terrible and unnatural, they appeal to a kind of nihilistic anthropocentrism. Anti-natalism is misanthropic and anthropocentric. […] Solipsistic epistemology.“ Es finden sich Verweise auf Mainländer und Cioran. Am Ende kommt die Protagonistin zu dem Schluss, dass das Universum nicht indifferent ist: “Nature blunders like a drunk groping a whore in an alley. […] She cares dearly. Nature saw to it that there are far more bacteria on Earth than stars in the universe. She dearly loves her fungi, viruses, prions, and the glorious symphony of decomposition.”

Slatskys Charaktere sind fast alle Versehrte und (Er-)Leidende und auch wenn er in seinen Themen und Motiven sicherlich von Thomas Ligotti beeinflusst ist, so ist er in der Art der Figurenzeichnung näher an Ramsey Campbell. Alle Texte verbindet das Leitmotiv von Verlust und Schmerz und die Bilder Käthe Kollwitz‘ mit ihren kauernden Figuren, die ursprünglich natürlich einem völlig anderen Kontext entstammen, sind eine durchaus angemessene Illustration dieser Texte, die zeigen, was unheimliche Literatur alles zu leisten vermag. (MG)

Verlag: Grimscribe Press