Ô PARADIS: Liquido

Es gibt im Werk von Ô Paradis einen Charakterzug, der meinem Eindruck nach in den letzten Jahren immer deutlicher wurde, nämlich die Tendenz, so etwas wie Schönheit, Opulenz, Wohlklang etc. nicht nur als etwas Fragiles zu zeichnen, sondern in einer fast chaotischen und gelegentlich spröden Unaufgeräumtheit – als eine staubige Schatz- und Rumpelkammer an Klängen, der gerade noch so viel Eingängiges beigegeben wird, dass ein feiner harmonischer Rahmen entsteht. Und auf fast magische Weise immer noch ein Eindruck von Pop.

Wäre Demian Recios Musik so berühmt, wie sie sein sollte, würden einige diesen Zug zu imitieren suchen und dabei im Labyrinth ihrer Versuche verloren gehen. Die meisten jedoch würden sich an den poppigen Seiten Ô Paradis orientieren und im Indie-Radio landen mit solider Musik, die in ihrer Heruntergebrochenheit an die Coil-Cover zahlreicher Dark Ambient-Projekte oder an Depeche Mode-Klone der 90er erinnern würde. So gesehen gut, dass Ô Paradis nach wie vor die Aura eines gut gehüteten Geheimnisses umgibt.

Ich kam auf diesen Gedanken durch den “La Placa Bella” – der schöne Ort – betitelten Song auf dem neuen Album “Liquido”, hinter dem sich eine Schicht grobkörniger Elektronik versteckt, durchzogen von verquer gebrochenen Takten, die in ihrer immer noch leicht tribalen Bewegung seltsam ungreifbar bleiben. Dies gilt auch für Demians zunächst eher introvertierten Gesang, der erst mit der Zeit zu etwas mehr Pathos ansetzt und der Unruhe der Musik entgegenwirkt. Die Schönheit, die dabei entsteht, ist herausfordernd und würde von Gelegenheitshörern, die man seinerzeit mit Songs wie “Medio Angel” oder “Mejor Que La Muerte” noch anfixen konnte, nur mit einer gewissen Anstrengung erkannt werden, denn erst die wehmütige Klage einer Violine sorgt für eine etwas deutlichere Harmonie.

“Liquido” erscheint in einer sehr aktiven Zeit für Ô Paradis, kein Jahr nach dem deutschsprachigen Album “Weiter Weg”, nach dem noch ein Album des Seitenprojektes Les Paradisiers folgte und die Wiederveröffentlichung seiner Kollaboration mit Nový Svět. Begleitet von der v.a. von Current 93 her bekannten Geigerin Aloma Ruiz Boada (sowie visuell von Vater Ricard, Carles Gomila und Zoë Valls) entstand ein freis Werk, dessen spontane Machart durchgehend spürbar ist.

Wie bei einem Labyrinth mit zahlreichen Eingängen, von denen jeder irgendwann ins Zentrum führen könnte, gibt es zahlreiche Einfallstore zu “Liquido”, und eines, das mich besonders beeindruckt hat, sind die Vielzahl an rhythmischen Motiven, die dem meist doch sanften spanischen Gesang und den besinnlichen Streicherparts, die diesmal das ganze Album durchziehen, einen “experimentelleren” Aspekt beigeben. Sie eröffnen das Album durch spannungsvolles Rasseln und monumentale Trommelwirbel und werfen die Hörer in einen Stoff der Gegenreformation des 16. Jahrhunderts, während fließendes Wasser und die mäandernde Geige das eigentliche Leitmotiv andeuten. Im folgenden “Afán de adivino” hält metallene Perkussion die paradoxe Balance zwischen Spannung und Gelöstheit, während heiserer Gesang über schwülen Orgeln die Erschöpfung feiert. Einmal mehr vermögen erst die durch Mark und Bein gehenden Geigenparts all dies zu versöhnen.

Nicht nur zu Gesang und Streichern setzt die “rhythm section” Kontraste, im aufgewühlt brummenden Walzer “Inerte” mit seinem entrückt-ekstatischen Gesang befeuern und behindern peitschende Detonationen den Fluss der rauen Sounds. Zahlreiche solcher Spannungsgefüge machen jeden Song zu einem kleinen Kontinent, der von den wahrhaft Neugierigen entdeckt und erkundet werden will, aber natürlich stechen auch hier bestimmte Momente besonders hervor. Da wäre zum einen das Lord Henry Wotton, dem mephistophelischen Mentor und Verführer des Dorian Grey gewidmete Stück, das um ein Filmsample gebaut ist und von Snaredrum-Polyrhythmen vorangetrieben wird – “losing” ist das zentrale Wort des eingespielten Filmdialogs. Zum anderen “Las cajas de cartón”, das in seinem Pappkarton einen fast hippiesken Popsong mit Akustikgitarre präsentiert.

Beim nachdenklichen Ausklang von “La estatua del niño estudiante” mit seinem schwermütigen Loop mag man sich fragen, was man da gerade hinter sich gelassen hat, und ob es ein Zurück gibt. Vermutlich nicht, da man ohnehin bei jedem Hören Neues entdeckt, und auch für Demian scheint diese Platte im zwanzigsten Bandjahr im Zeichen eines Neuanfangs zu stehen. Als solcher ist “Liquido” ein wunderbares Omen, für das man sich Zeit nehmen muss und sollte. (U.S.)

Label: Dark Vinyl