SUDDEN INFANT: Lunatic Asylum

Dass Sudden Infant bereits seit einigen Jahren vom Soloprojekt zum Trio mutiert sind, ist Lesern unserer Seiten sicher bekannt, auch dass dieser Wandel wie zu erwarten mit einer musikalischen Veränderung einherging. Alle Zeichen stehen nun seit Jahren nicht nur indirekt auf Punk in seinen verspieltesten Formen, was auf gewisse Weise den Bogen zur Vorgeschichte schlägt, denn genau das war die Musik, die bei Gründer Joke Lanz früher mehr als so manches andere die Weichen stellte.

Waren die ersten Longplayer als Trio, “Wölfli’s Nightmare” und “Buddhist Nihilism”, noch eher so etwas wie Konzeptalben, so bekommt man beim jüngst erschienenen “Lunatic Asylum” schnell den Eindruck, ein Manifest der Band in Händen zu halten. Mehr als eine Handvoll musikalischer und textlicher Motive – Punk und launige Exotica, Kindheit und Wahnsinn, Glück und Absurdität, Simple Reime und die Verspottung von Konsum und Leistung, Speis und Trank und der große Rausschmiss, der immer irgendwo droht – bilden im Laufe der Tracks ein immer deutlicheres Muster, in dem man fast so etwas wie die Essenz der Band zu erkennen glaubt. Oder ist das alles nur Projektion und der Verfasser dieser Zeilen selbst längst Teil des Irrenhauses? Es gäbe schlimmere Orte.

Dass “Lunatic Asylum” ein Album zum Kennenlernen der Band ist, zeigt sich schon zu Beginn, denn bei “”, einem Opener zum Wachwerden, stellt Joke die Band plus Team erst einmal persönlich vor, und das gleich vor Trommelwirbeln und knarrenden Bässen, was dem ganzen eine ungewöhnliche Liveatmosphäre gibt. Der Rest ist ein Tour de Force-Ritt durch die Welt von Sudden Infant: Köpfe ohne Ende verbinden Menschen und Tiere aller Art in “Head”, bis bis Drummer Babel selbige zusammendrischt, während lustige Sounds wie Flummies durch den Raum höpfen. Wirres Gelächter leitet über in die freudlich-fröhlichen Exotica von “Ah-Ah-Ah 1921″, bei der auch Jokes Turntablism seine Momente bekommt. “Are you happy?” fragt eine geloopte Stimme, doch dass es mit der Happiness keine ganz so eindeutige Sache ist, wird etwas später in “Happyness To Go” deutlich: Hier reimt sich Nudel auf Apfelstrudel und ein ganzes Fast- und Streetfood-Menü offenbart den Bauchschmerzen-Kollaps aller Glücksversprechen einer gierigen Konsumwelt, die im Musicalstück “There Will Be A Reply” oder im eruptiven Ausbruch von “Mood Swings” nochmal wiederkehrt. Wer noch klar denken kann registriert dann vielleicht das mysteriöse Brodeln und Rauschen im Hintergrund und kann sich daran gebührend erholen.

Leitmotive wie diese sind eingepackt in eine Vielzahl von Ideen, die “Lunatic Asylum” in gefühlt jedem Song neu erfinden. Maultrommeln in “Mika the Dog”, das die Freundschaft zwischen Mensch und Tier feiert, Straßenszenen in Kairo in “Sor El Qahira”, die Beschreibung der Kindwerdung eines Mannes in “The Lived Body”, das eventuell eine ältere Lanz-Performance beschreibt oder zumindest so klingt. Dann eine Feier der Tautologien in “Pain is a Pain”, in der sogar Trashmens “Surfin Bird” zitiert wird, Gertrude Steins berühmter Slogan aber über die Rose, die eine Rose ist, ausgespart bleibt. Dass wir uns in den verschiedensten Situationen als Kinder wiederfinden (“Il ya des Enfants”) und dass uns dies und der kindliche Blick auf alles mitunter ganz plötzlich wiederfährt (“I Ghoere Es Gloeggli” – die Göre ist glücklich), Scheint jedoch ein Schlüsselmotiv zu sein, das dem ganzen Wahnsinn eine gesunde Kehrseite gibt und den abstrusen Sinnangeboten des Saufens, Fressens und Selbstoptimierens ein Stoppschild vor die Nase hält.

Wenn im abschließenden “Tuba Manifesto”, in dem sich das Blasinstrument in einem Sound behauptet, der viel dreckiger und chaotischer als der durchgängige launige Artpunk daherkommt, die Musik und die Kunst als alles was zählt proklamiert wird, hätte man es so deutlich nicht einmal gebraucht – aber: Zu einem Manifest gehört gerade das dazu, und somit schließt sich der Kreis. (U.S.)

Label: Fourth Dimansion Records