V.A.: Beirut Adrift

Rayya Badran ist eine international tätige Autorin, Übersetzerin und Kunsttheoretiketin mit Homebase in der libanesischen Hauptstadt Beirut, wo sie außerdem beim Radio sowie als Lehrerin und Hochschuldozentin arbeitet. Zusammen mit der von der Schweiz aus arbeitenden Organisation Norient City Sounds, die die typischen musikalischen wie nicht im herkömmlichen Sinne als musikalisch gelesenen Klänge von Städten erforscht und in einer virtuellen audiovisuellen Galerie dokumentiert, hat die ambitionierte Kulturarbeiterin ein Kapitel zu ihrer eigenen Stadt kuratiert. Die vorliegende Compilation ist ein wesentlicher Teil des Resultats.

Da das ganze Projekt einen besonderen Fokus auf ortsspezifische Sounds legt, nimmt es nicht Wunder, das stark am Soundmaterial orientierte – vulgo “experimentelle” – Klangkunst, für die Beirut ohnehin seit Jahren zu einer vielversprechenden Hochburg geworden ist, einen großen Raum einnimmt. Dennoch ist auf “Beirut Adrift” eine große Bandbreite an Stilen und Stimmungen zu hören. Die in vielerlei Hinsicht desolate Situation des Landes am östlichen Mittelmeer, in dem die Pandemie der letzten Jahre und die verheerende Explosion von 2021 im Hafen der Stadt die (nicht immer nur) schwelenden sozialen und ökonomischen Krisen verstärkt haben, ist hier nicht nur als Hintergrund präsent: Auch ist sie ein wichtiger Trigger für den starken Widerstandsgeist, der die verschiedenen Künstler motiviert. So sind auch all diese Krisen auf gewisse Weise Teil der musikalischen Signatur.

Aufgrund der heterogenen Ansätze lohnt es sich, auf die einzelnen Beiträge einzugehen. Die Sammlung startet mit einer verspielt-melancholischen Klangkollage, bei der ein (vielleicht im Klang verfremdetes) Akkordeon gemächlich auf- und abebbende Dröhnwellen erzeugt, deren verträumtes Lebensgefühl nur gelegentlich unterbrochen wird durch leichtes Hantieren mit schepperndem Gerät. Der Track stammt von der jungen Künstlerin Yara Asmar, die gerade ihr Tape-Debüt bei Hive Mind herausgebracht hat. Dass die intermediale Künstlerin wohl auch mit Marionetten arbeitet, glaubt man aufgrund der Puppenhausästhetik sofort. Ziemlich kontrastreich dazu wirkt der als elektroakustische Rezitation der dunklen Art beginnende, spannungsgeladene Score von Anthony Sahyoun, in welchem Gastvokalist Firas Hallak vor leise kreischenden Kulissen den Fokus derer, die das Arabische beherrschen, auf die Metropole als Locus Horribilis lenkt.

Nach diesem unmissverständlich beängstigenden Szenario laden der Klangkünstler Jad Atoui und der hier Saxophon spielende Multiinstrumentalist Khodor Ellaik (Kid Fourteen), die bereits ein gemeinsames Album produziert haben, auf das zumindest dem Anschein nach sicherere Terrain gut skulpturierter, plastischer Sounds, bei denen Tupfer modularer Synthies die Basis kratziger Striche abgeben, die sich erst mit der Zeit als Saxophonklänge herausstellen. Der Song hätte auch als Klavierballade funktioniert, und selbst dann wäre die subtile Spannung daraus nicht gewichen. Das folgende “Coast III” stammt von Elyse Tabet (ehemals Litter) und Jawad Nawfal (aka Munma), die seit beinahe zehn Jahren im künstlerischen Austausch stehen. In dem kleinteilig rasselnden Soundgebilde tauchen verschiedene Rhythmen auf, die sich auf reizvolle Weise nie ganz einig werden, wovon eine unterliegende, beinahe hypnotische Harmonie jedoch nicht angetastet wird.

Der verwehte Gesang, der in Sandy Chamouns großartigem Protestsong “Nas el Wahel” rauschend und tremolierend durch den Raum weht, steigert sich in einigen Minuten zu einem Sturm, der unbarmherzig und von lärmenden Takten begleitet über eine postapokalyptische Landschaft fegt. Der Titel bedeutet “Menschen des Schlamms” und referieret auf die Proteste, die 2019 das Land erschütterten. Um die Verwundbarkeit der Stadt und seiner Menschen geht es auch in dem Beitrag von Mayssa Jallad und Khaled Allaf, auch wenn die poppige Produktion, die Eingängigkeit der verspielten Melodien und der klare Gesang nicht unterschiedlicher sein könnten. Bei dem an teilweise Massive Attack erinnernden Arrangement denken einige vielleicht noch an Libanons eigene Triphop-Tradition und eine Band wie Soap Kills.

Das Duo Two or the Dragon trägt mit dem zweiten Teil des “Prelude for the Triumphant Man”-Zyklus einen der noiserockigsten Tracks bei und huldigen den Maschinenklängen der Stadt. Zunächst ahnt man kaum, dass die aggressive Szenerie primär auf Instrumenten wie Duhulla und Bouzuk basiert, die traditionellen Ursprungs sind. Sary Moussas “Tides” leitet in knapp zwei Minuten in den Schlussteil über und verbreitet in hellen, hypnotischen Klangwellen eine Spannung, die eine im Hintergrund schwelende Desolatheit ahnen lässt. Der Ausklang obliegt Tunefork-Impressario Fadi Tabbal mit seinem monumentalen Dronestück “Ceremony by the Sea”. Bevor dieses in fast rührendem Wohlklang endet, muss noch ein Weg durch verrauschtes Land zurückgelegt werden, auf dem einem gigantische Gerätschaften begegnen und die Sprache verschlagen.

Compilations, die Musiker aus bestimmten Orten, gerne jenseits der westlichen Kernländer, präsentieren, sind in den letzten Jahren auch in weniger populären Bereichen sehr beliebt geworden und wurden auch auf unseren Seiten immer gerne – so wie dieser ebenfalls Beirut thematisierene Sampler – besprochen. Ein kleiner Rest Zwiespältigkeit bleibt jedoch immer bestehen: Auf der einen Seite gibt man interessanten Künstlern so eine weitere Plattform, ihre Musik überregional bekannt zu machen und stiftet im besten Fall neue Verbindungen; auf der anderen Seite kann man jedoch nie ganz verhindern, dass auf diesem Weg auf Rezipientenseite ein kleiner Rest Exotismus bedient wird, sei dieser auch noch so experimentell, problembewusst und kritisch-distanziert eingefärbt.

Vielleicht ist dies aber gerade ein Problem, dass auf Seiten westlicher Hörer behoben werden muss, die sich ein unbefangeneres Bild von den Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen der eigenen und anderen Lebenswirklichkeiten aneignen sollten. “Beirut Adrift” jedenfalls stellt die Stadt durch ihre Musikauswahl und die zugrundeliegenden Themen als einen Ort vor, mit dem es sich zu befassen lohnt, der zwar “spannend und pulsierend” sein mag und einen zum Schwärmen bringen kann, die aber ebenso sehr eine ernsthafte und unverblendete Auseinandersetzung fordert. Ein mehr als gelungenes Projekt! (U.S.)

@ Norient