In der griechischen Mythologie ist Charon der Seelenführer, der als Fährmann der Unterwelt die Seelen derer, denen Bestattungsriten gegeben wurden, über die Grenze zwischen der Welt der Lebenden und der Toten, die Flüsse Acheron und Styx geleitet. Als Symbol für den Übergang zwischen zwei unterschiedlichen Dimensionen, mögen sie räumlich, zeitlich oder anders geartet sein, hat der Fährmann bis heute überlebt, und er prägt auch ganz wesentlich die Symbolik auf dem neuen Album von Twelve Thousand Days.
Auf “The Boatman On The Downs”, das geografisch auf ein Marschland im Süden Englands referiert, inszenieren Martyn Bates und Alan Trench eine geheimnisvolle, initiatisch wirkende Reise durch die Nacht, bei der einem bei dunklen Folkklängen Gefühle des Begehrens, aber auch der Trauer und das besondere Lebensgefühl am Übergang vom Frühling zum Sommer auf eine ganz ungewohnte Weise bewusst werden.
Mit “Comely” startet das Album in einer verzaubert märchenhaften Abendstunde und lässt Bates mit mit seiner unverkennbar feierlichen Stimme vor einer glitzernden Ambientkulisse etwas Geliebtes beschwören und damit zugleich den Frühling mit all seinen Düften. Tiefer in der Nacht spielt die Handlung von “A Frankish Casket”, das in einer von Efeu umrankten und nach Weihrauch duftenden Szenerie, in der die Eule schreit und eine Orgel für Feierlichkeit sorgt, die Geschichte von Wieland dem Schmied und dem bleichen Gott zum neuen Leben erweckt.
Dominierten in den ersten Tracks eher leicht angefolkte Ambientklänge, setzen die für Twelve Thousand Days typischen Akustikgitarren in dem bekannten irischen Folksong “Arthur McBride” ein. Das zunächst ebenfalls mit einem erwartungsvoll spannenden Dröhnen beginnende Stück beschreibt einen angstgeplagten Fiebertraum, in welchem die beklemmende Furcht vor diffusen Gefahren Regie führt. Im Hintergrund rumort es bedrohlich, Gerumpel und Trenchs typische E-Gitarre verschlucken die Stimme fast und geben dem Song etwas zerfleddertes. “Tale from a Silver City”, das auf einem Text von John Masefield basiert, findet ebenfalls in einer somnambulen Traumrealität statt, doch die von pastoralem Gitarrenpicking und einem gelegentlichen Glöckchenanschlag begleitete Geschichte einer Heiligen Stadt hat diesmal etwas hell kristallines. Doch die vermeintlich heile Welt täuscht hier, denn auch dieser Song entpuppt sich im weiteren Verlauf als Diskurs über die Vergänglichkeit, und das ganze Leben am Ende als die Geschichte eines Reisenden in einem Traum.
Eine wahre Sinnenfeier ist “The Summer Tree”, von dessen Entwurf Bates wohl anfangs gar nicht so begeistert war, doch Trench bestand darauf diesen Song mit auf das Album zu nehmen und lud sogar den griechischen Kontrabassisten Petros Lampridis mit ins Studio. Hier riecht man geradezu den harzig-verrauchten Duft von Birkenteer, wenn man wie mit einer Drohnenkamerafahrt durch die nächtlichen Downs fährt und die von anfangs pastoralen, später energischen Akustikgitarren und dem erdenden Bass begleitete Geschichte hört, die nur wenig mehr als ein impressionistisches Stillleben ist. Der leicht experimentelle Grundton, der sich schon länger dezent andeutet, entfaltet sich vollends in dem von unerhörten Wundern kündenden “The Emerald Tablet”: dieses Stück, das auch auf ein Temple Music-Album gepasst hätte, klingt wie nach links gedreht mit seinen verdrehten Stimmen und seinen im Hintergrund tobenden Gitarren und anderen klingelnden Objekten.
Die dunkelsten Momente ereignen sich wie so oft in den Abschnitten kurz vor dem Licht am Ende des Tunnels. “Under What Scars” ist die melodisch rauschende, kratzende und dröhnende Hommage an einen verstorbenen Freund und hat trotz der einfachen, fast spröden Gitarrenarbeit etwas feierliches, das auch zu einem Weihnachtslied gepasst hätte. Dann “The Boatman”: So spannend und endzeitlich ist kein Moment dieses Albums, auch wenn sich die dunklen Motive, bei denen sich Lieblichkeit und düsteres Rauschen und Rumpeln die Hand geben, in der einen oder anderen Art durch das Album ziehen. Etwas, dass an eine Jahrmarktsorgel erinnert und schreiende Möven beenden diesen Song. Dann ist Zeit für die morgendliche Sonne und das Licht des Frühlings, für das auf einem aus Lesbos stammenden A Capella-Song basierende “As the Sun”, in dessen mediterranes Setting ganz geschickt das Kinderlied “Early One Morning” verwoben ist – und letztlich für die erwachenden “Brides of May”, die diesmal von Alans Gesang in einem idyllischen Tableau beschworen werden, dessen entspannte Euphorie durch das unaufgeräumte Instrumentenspiel genau den richtigen Grad an Tiefe erlangt und auch beim harmonischen Schluss nicht in die Falle des nur noch Schönen tappt.
“The Boatman on the Downs” ist ein Album mit doppeltem Boden: Es enthält einige Stücke, die als Ideen oder manchmal auch Entwürfe schon eine Weile in den Schubladen von Bates und Trench lagen und klingt doch vergleichsweise wie aus einem Guss. In seiner Bildlichkeit der Schwelle und des nächtlich unternommenen Transits in eine morbide Unterwelt stellt es düsteres in Aussicht, das durchaus nicht auf sich warten lässt. Trotzdem ist die frühlingshafte Sinnlichkeit ebenso greifbar. Eindeutig ist, dass es die beinahe perfekte Platte für die aktuelle Jahreszeit ist.
Label: Final Muzik