Dass sich die Situation von Mädchen und Frauen in Afghanistan nach der Übernahme der neuen alten Machthaber zum Schlechteren wenden wird, wurde nach dem Abzug der westlichen Alliierten im Jahr 2021 bereits vermutet, wobei es zugleich noch beschwichtigende Stimmen gab, an die sich in unseren Breiten manche wie an einen Strohhalm klammerten. Vielleicht würden sich die Fundamentalisten ja diesmal schon im Interesse internationaler Akzeptanz etwas moderater geben? Einige klangen so. Dass Pessimismus eher angebracht gewesen wäre, zeigten die Entwicklungen der folgenden Monate, während das Thema gleichzeitig immer mehr aus den Medien verschwand und anderen Themen den Vortritt lies. Starke Einschränkungen der Reise- und Bewegungsfreiheit, keine Möglichkeit eines Hochschulstudiums, die Abschaffung des Frauenministeriums, die Rückkehr zumindest zu Teilen der alten Kleidungsvorschriften und schließlich die Schließung der Schulen für Mädchen ab 13 Jahren sind nur einige wesentliche Veränderungen, die sich in den vergangenen zwei Jahren speziell für Mädchen und Frauen ergeben haben.
Die in Hamburg ansässige Organisation Afghan Women’s Association hat es sich zur Aufgabe gemacht, über all diese Probleme nicht nur aufzuklären, sondern ihnen v.a. im Bereich der Bildung entgegenzutreten und Homeschooling, Online-Unterricht und einiges mehr für Mädchen aktiv zu fördern. Jüngst ist in Zusammenarbeit mit der Musikplattform Underground Institute, die auch als Label fungiert, die vorliegende Compilation entstanden, auf der 25 Acts (bzw mehr, wenn man in Betracht zieht, dass es sich zum Teil um Kollaborationen handelt) in anderthalb Stunden ihren Teil zum Fundraising beitragen. Das Gros der Musik kommt aus experimentelleren Richtungen, doch mit Beitragenden wie Xiu Xiu, Julia Kent, Felix Kubin und Gudrun Gut sind auch einige bekannte Namen dabei, deren Reichweite den Rahmen avantgardistischer Nischen sprengen.
Um mit einer Compilation Aufmerksamkeit und Einnahmen aufzutreiben, muss man dem anvisierten Publikum natürlich etwas bieten, und wenn man Kriterien wie Qualität, Innovation und Variationsbreite Rechnung tragen will, ist Underground Institute definitiv keine schlechte Adresse. Vor allem beim Punkt Vielseitigkeit beeindruckt die Auswahl, auch wenn sich ein gewisser Avantgarde-Faktor wie eine Klammer um die vertretenden Beiträge legt. Einen Teil dieser kann man unter dem Rahmen atmosphärischer Soundscapes fassen, ein Beispiel dafür ist das berührende Cellostück “Clouds Light the Night” von Julia Kent. Kommen zunächst dunkel wirkende Wolken auf einen zu und umhüllen einen immer mehr und schaben und kratzen an allem was sie berühren, so verströmen sie doch auch etwas warmes, beruhigendes. Irgendwann jedoch bemerkt man, wie sehr sich helles Licht über die hohen Cellosaiten im Raum verbreitet. Was die Wolken angeht hatte ich ein kleines DejaVu beim Beitrag von Laure Boer, deren kurzes Stück die Soundwellen wie Wolken vorbeiziehen lässt und zwischendrin Klänge anklingen lässt, die an eine elektrifizierte Doppelblattflöte erinnern. Ähnlich soundscapig der Beitrag von DJ Flugvel Og Geimskip, der an eine kindliche, leicht asiatisch klingende Spieluhr erinnert. Hektischer geben sich die gebrochenen Rhythmen von Phtalo, oder die von einem fließenden Takt getragene Klanglandschaft von Ka Baird, ganz schön monströs das tremolierende Vokalstück von Audrey Chen und Mary Ocher und der verzerrte (und gleichzeitig melodische) Flüsternoise von Meira Asher und Uri Frost. “My Own Pace” von Eve Maret überblendet zwei Gangarten zu einem Ambienttrack der schnelleren Art.
Viele der vertreteren Acts arbeiten mit dem Medium Text und steuern rezitative oder hörspielartige Tracks bei. Auch hier wirken Sprache und Stimme bisweilen wie ein weiterer Teil des Soundmosaiks (z.B. bei der vielschichtigen Überblendung von Elektronik, Polizesirenen, Rap und einem ausgedienten US-Prädidenten), was im fisseligen Mouse of Mars-Remix von Ya Tosiba natürlich auch an der dem Rezensenten nicht vertrauten Sprache liegen kann. Bei einigen Stücken ist ein Bezug zum Thema des Samplers gegeben, wie im kämpferischen “Hypnotizing Powerful People” von No Bra oder der provokanten “Feier” betont nicht-afghanischer Luxusprobleme bei The Mad Express. Bei anderen könnte man den Bezug vielleicht an den Haaren herbeiziehen (z.B. Felix Kubins electroclashig untermalte Interpretation von Kant, Locke und Freud).
Im Verlauf der Sammlung häufen sich mit der Zeit songorientierte Beiträge, unter denen einige mitreisende Ohrwürmer sind, so “The Lighthouse” von Ana da Silva, die mit ihrem fulminanten Popsopran eine spannende Geschichte erzählt. Von ähnlich sanfter Eingängigkeit ist “Incantation” von Nina Hines. Ungleich psychedelischer und zugleich in der Nähe eines Girlie Pop aus der Mitte des 20 Jahrhunderts ist der Song von Rita Braga, während Manu Louis’ Beitrag wie eine Rockballade mit atmosphärischen Gitarrengeschrammel und energischem französischen Gesang daherkommt. Der vielleicht am meisten zum Mitsingen animierende Song ist der wehmütige und zugleich ein bisschen euphorische Polka-Chanson “Goodbye my Dictator” von Michelle Gurewich. Während Les Trucs mit ihrem dadaistischen Elektropop ein Stück über den Alltag von Klaviertransportern zum Besten geben und M Lamar sein Falsett über eine stimmungsvolle Pianospur schickt, liefert Gloria de Oliveira einen ambient grundierten, beinahe gehauchten Wavesong ab, der auf sanften Schritten daherkommt. Xiu Xiu überraschen mit einem semiakustischen Stück mit gemischtem Gesang, der nostalgische Erinnerungen an Echo and the Bunnymen aufkommen lässt. Gudrun Guts treibendes “Baby I Can Drive My Car” ist natürlich doppelt referenziell und nimmt mit Groove und rauer Stimme ironisch Bezug auf die aufoktroyierte Unselbständigkeit von Frauen selbst im Straßenverkehr.
Fast etwas schade ist es, dass nicht mehr Musiker aus der Region um Afghanistan vertreten sind – im Land selbst ist es nun schwierig überhaupt populäre Musik zu veröffentlichen. Aus dem arabischen Raum stammt die Combo El Khat, deren mitreißend stimmungsvolles “La sama” wie ein psychedelischer Marionettenanz mit Blechgeklapper und leidenschaftlichem arabischen Gesang anmutet. Das ganze hat einen Hauch vom Surfrock eines Link Wray, aber eben durch den kulturellen Fleischwolf einer ganz anderen Musiktradition gedreht. Ein besonderer Stargast ist die konsequent verschleierte Burka Band, über deren Mitglieder, die tatsächlich weiblich sind und aus Afghanistan stammen, immer wieder spekuliert wurde. Ihr Song “I care for you” ist groovige Psychedelia in girly style, aber dies ist nur das Vehikel für einen ernsthaften Text der die Unsichtbarkeit afghanischer Frauen, die wohl durch nichts mehr als durch die Burka symbolisiert wird.
Dass es sich bei der aufwendigen Zusammenstellung und der großen Bandbreite der Beiträge letztlich um einen kleinen Baustein im wahrscheinlich noch lange unfertigen Gebäude der Rechte afghanischer Frauen handelt, sollte niemanden einschüchtern und zur Resignation verleiten, denn jender Schritt ist besser als keiner – v.a. wenn man bedenkt, wie sehr das Thema zuletzt wieder im Sumpf des medialen Allerlei versunken ist. Und allen die sich gerne polarisieren lassen sei gesagt, dass man auch bei aller zum Teil berechtigten Kritik an Aspekten westlicher Afghanistanpolitik die Augen vor der beschriebenen Situation nicht verschließen muss. Dass die Compilation aber sowieso nichts für Klischeedenker ist, zeigt schon die bei aller Stimmigkeit doch äußerst vielgestaltige Musikauswahl.
Label: Underground Institute