NOISE CLUSTER / CRISTIANO BOCCI: To the Moon and Back

Noise Cluster bzw. die hinter dem Namen stehenden Flavio Derbekannte und Arianna Degni Lombardo hatten schon seit jeher ein Faible für das All, für Raumfahrt, Aliens und alles Extraterrestrische. Beim Blick auf den Titel des neuen Tapes “To the Moon and Back” fühlt man sich also gleich auf vertrautem Boden. Das Tape wurde mit dem toskanischen Musiker Cristiano Bocci eingespielt, der das Gerüst aus Synthies, Glocken und postindustriellen Trompetenklängen mit elektrischem und akustischem Bass sowie zusätzlicher Elektronik ergänzt hat. Vom ersten Track an wird klar, dass hier vertraute Elemente von Noise Cluster auf neue, zum Teil unerwartete Weise erweitert wurden. Man muss das Wort Psychedelisch hier nicht groß schreiben, aber ich war doch überrascht, dass es mir einmal bei einem Noise Cluster-Album einfallen würde.

Der Opener “Chariot Across the Skies” startet direkt mit einer Welle aus synthetischen Klängen, die aquatische und pochende Soundelemente miteinander verweben, zwischendrin schießen flirrende, quietschige Hochtöner ins All. Besonders bemerkenswert ist der im bisherigen Noise Cluster-Kontext nicht vorgekommene elektrische Bass, der der Komposition eine raue, kernige Erdung verleiht, während Ariannas hier etherisch anmutende Stimme durch den Raum schwebt. Mit seinen unvorhersehbaren Wendungen und der Vielzahl an Klängen, die sich scheinbar in verschiedene Richtungen bewegen, bleibt der Track doch ebenso kohärent wie spannungsvoll.

Mit “Endymion and Selene” wird das psychedelische Element weiter vertieft. Verstärkt durch Boccis kratzenden Bass und Flavios geheimnisvolle Trompetenklänge, entstehen dichte, spacige Soundscapes als Hintergrund zu dem mythischen Stoff, der hier umgesetzt wird – Selene, die Mondgöttin, und Endymion, der ewige Schläfer. Der Track lebt von seiner dichten Atmosphäre und dem Wechselspiel zwischen Dröhnen und subtilen, fast entrückten Melodien, und bisweilen denkt man an eine in elektrifiziertes Rauschen gehüllte Kamanche oder ein vergleichbares Streichinstrument. “Eterna Sfera Celeste” überrascht mit leiernden, tremolierenden Klängen und einer theatralischen Gesangseinlage, wie man sie von Arianna alias xXeNa selten zu hören bekommt: Eine Geschichte über tanzende Schattem im Mondlicht, die der Dramatik des Settings zum Trotz anscheinend ihren Frieden finden, entfaltet sich. Die Verschmelzung von Trompete, elektronischen Effekten und einem leichten Downtempo-Rhythmus schafft ein faszinierendes Setting, in welchem die entrückten Gesänge bisweilen in teuflisches Lachen (der Madame de la Luna persönlich?) kippen und es der oder dem Einzelnen überlassen bleibt, eine beklemmende oder eine befreiende Erfahrung zu machen.

“Kathaireseis (Lunar Eclipse)” hält einige der intensivsten Momente des Albums parat. Elektrifizierte, summende Klänge und aquatische Geräusche verschmelzen zu einer fast überwältigenden, hypnotischen Dröhnung – und erinnern ganz nebenbei daran, das Unterwasserwelten, auf die der Mond ja auch seinen Einfluss ausübt, auch immer mal ein Thema bei Noise Cluster und ihren Vorgängerprojekten waren. Der Track steigert sich zunehmend in seiner Lautstärke und Dichte, bis er in einem kratzenden, beinahe kathartischen Finale in einem undefinierbaren Setting endet. Mit “Non Guardo la Luna” erreicht das Album allerdings seinen Höhepunkt an Theatralik. Die dramatische Stimmperformance von Gastmusikerin Astrid Inouye lässt die Hörer in eine verquere sublunare Welt eintauchen, die durchzogen ist von flirrenden, verzerrten Sounddetails, die an einen intensiven, erschöpfenden (oder kathartischen?) Alptraum erinnert. Der poetische Text, im welchem der launische Mond im Vergleich zur Fragilität menschlicher Verbundenheit noch als zuverlässig gezeichnet wird, stammt im Original von Fabio Magnasciutti und wurde von Flavio für das Stück gekürzt. Der Track hat was wahnsinniges und könnte aus einem fiktiven verschollenen Pupi Avati-Thriller kurz nach La Casa dalle Finestre che Ridono stammen.

Das düstere “Secret Moonlanding” mit seinen Doom-Industrial-Untertönen scheint eine fiktive Mondlandung in einem psychedelischen Traum oder Trip darzustellen, während “The Courtship of the Sun and the Moon” die Reise mit schwebenden Ambient-Flächen, lärmigem Rauschen und rituellem Klingeln und Bimmeln fortsetzt. Besonders faszinierend ist hier die Verbindung von postpunkartig pulsierenden Basslinien und fatalistischen Trompetenklängen, die zu einem Showdown passen würden. Der gemächlich startende Abschluss “Silver Dancer” ist düstergrollend und geheimnisvoll. Mit Inouyes diesmal alarmierenden Vocals, einer entspannten Trompete und verwehten Glockenklängen beschließt der Song die Mondreise in einer unheimlichen, giallo-artigen Stimmung, womit Bocci und Noise Cluster sich zum Abschluss fast nonchalant nochmal einige der mysteriösesten Momente des Albums aus dem Ärmel schütteln.

Mit alldem ist “To the Moon and Back” ein Album, das Noise Cluster in ein ähnlich ungewohntes neues Licht rückt wie seinerzeit die Kollaboration mit Lyke Wake – so druckvoll wie eh und je, doch weitaus kosmischer, dröhnender und weniger clublastig als auf den rhythmischer ausgerichteten Alben der vergangenen Jahre, was natürlich auch dem Mitwirken von Cristiano Bocci zuzuschreiben ist. Was eine schon vor Jahren vollzogene Entwicklung v.a. auf “Medusa, Who Else?” weiterführt, ist der Stellenwert der Stimmperformances. All dies wirkt wie für einander gemacht und als passende musikalische Form zu dieser Erkundung unseres zwiespältigen Trabanten, der Mythologen, Astrologen, Astronomen und anderen Geschichtenerzähler immer wieder inspiriert und herausgefordert hat. (U.S.)

Label: Grubenwehr Freiburg