Die Vorstellung, dass unsere moderne Kultur von einer patriarchalen Denk- und Lebensweise geprägt ist, geht mindestens bis ins 19. Jahrhundert zurück und begleitet alle technokratischen Errungenschaften und ihre Schattenseiten als ein untilgbares Korrektiv. Das Anliegen dahinter ist keinesfalls bescheiden, will man doch dem phallogozentischen Denken (Derrida) eine feminine Sprache und je nach Credo auch Spiritualität nicht nur an die Seite stellen. Was gefordert wird, ist oft ein radikaler Paradigmenwechsel, der Übergang in ein von weiblich konnotierten Eigenschaften geprägtes Zeitalter.
Fasst man dies sehr weit, so findet man Ansätze dieser Art nicht nur beim knochentrockenen Trivialfeminismus, der die entsprechenden Eigenschaften ohnehin meist allzu moralingesäuert „den Männern“ und „den Frauen“ zuweist. Einen Hang zum Androgynen und eine Wertschätzung des Weiblichen als Antidot zu Militanz und Strebertum und einem allzu einseitigen Schwerpunkt auf dem Rationalen – das findet sich in der modernen Gegenkultur bereits in Zeiten von Décadence und Jugendstil, zieht sich über einige Schulen der Psychoanalyse durch das gesamte 20. Jahrhundert. Immer wieder auf den Tisch kommt die stets kontrovers diskutierte These matriarchaler Kulturen in frühgeschichtlicher Zeit. Nicht selten ist die Rede vom weiblichen Prinzip naturmystisch eingefärbt, und da bei den akademischen Konstrukteuren der offiziellen Kulturgeschichte nach wie vor entmystifizierende Diskurskritik hip ist, bildete sich in weniger offiziellen Bereichen der Kultur längst eine fast entgegengesetzte Art von Genderbewusstsein heraus, bei dem pagane Naturnähe und ein Hochhalten des Weiblichen Hand in Hand gehen.
Im musikalischen Bereich hat sich seit Dekaden eine Tradition herausgebildet, die mit populären Vorstellungen von Queerness nur wenig zu tun hat, man denke allem voran an die Moon Music von Coil oder an die immer noch als Geheimtipp gehandelte Verbindung von Musik und Malerei bei Val Denham. Antony and the Johnsons sind eine der Bands, die aufgrund ihrer Popularität vielleicht am meisten Gehör mit solchen Ideen finden. In Antonys Lyrics haben sich Leitmotive wie geschlechtliche Identität, Spiritualität und ökologisches Bewusstsein zuletzt immer mehr zu einem stimmigen Mosaik zusammengefügt.
In diesem Sinne ist das im letzten Jahr in Kopenhagen aufgenommene Album „Cut The World“, Antonys erste Live-CD seit der Split „Live at St. Olave’s Church“ mit Current 93, nicht nur ein klanglich hervorragendes Dokument, sondern auch ein kleines Manifest, dass die Botschaft der Gruppe recht präzise auf den Punkt bringt. Und das ist jetzt keineswegs eine übereifrige Auslegung von Texten und Gesten, denn im Zentrum der Aufnahme steht eine rund siebenminütige Ansprache, hier als „Future Feminism“ betitelt, bei der Hegarty seine Sicht in klaren Worten ausdrückt: Gegen eine monotheistische Himmelsreligion, deren drei Ausprägungen er für soziale Katastrophen und den ökologischen Kollaps unseres Planeten verantwortlich macht, bricht der katholisch erzogene Antony, längst auf Eigeninitiative „enttauft“, die Lanze für eine feminin konnotierte Erdverbundenheit, wünscht sich einen Switch hin zu einer Feminisierung von Religion und Politik und fordert den Mut ein, mentalitätsgeschichtlich gegen den Strom zu schwimmen. Er selbst macht es zweifelsohne schon an Ort und Stelle vor, mögen seine Symbole (Wasserquellen als Menstruation der Mutter Erde etc.) außer Kontext auch etwas angestaubt und seine Direktheit etwas didaktisch wirken.
Im eröffnenden Titelsong, Teil eines Musikdramas, dass Antony gerade zusammen mit Marina Abramovic und Robert Wilson auf die Bühne bringt, ist sehr viel von diesem Umkehrgedanken enthalten. Antony gibt nicht viel auf die bestehenden Verhältnisse, und schwere, angstbesetzte Erinnerungen kommen zu Wort: „My heart is a record of dangerous scenes“. Und doch ist das Stück von einer fast euphorischen Aufbruchstimmung durchdrungen, von der Hoffnung auf einen klaren Schnitt hin zu einem neuen Menschen. Das feinfühlige Spiel des Danish National Chamber Orchestra legt dazu ein dichtes Fundament. Der Rest der an zwei aufeinanderfolgenden Konzertabenden gespielten Stücke stammen aus sämtlichen Werkphasen, und alle fügen sich im Nachhinein in das stimmige Konzept ein. Da wäre „Another World“, wo das Loslassen und die Suche als hoffnungsfroher Aufbruch besungen werden – verbildlicht mit der Lichtmetapher, die bei „The Crying Light“ und beim elegischen „Swanlights“ eine deutlich mystische Komponente erhält. Die Abwesenheit des Lichts kommt im düsteren „Twilight“ zur Sprache, wenngleich ich das Ausbleiben des eruptiven Höhepunktes bedauere, der den Song ursprünglich zu dem machte, was ein sonst eher trocken formulierender Autor einmal voller Pathos die Axt für das gefrorene Meer nannte.
Das von Nico Muhly und den langjährigen Johnsons-Musikern Rob Moose und Maxim Moston dirigierte Orchester beweist sein Können auch gerade da, wo es sich zurückzunehmen versteht, was u.a. bei den leichtfüßigeren Stücken wie „Epilepsy Is Dancing“ und dem beschwingt verliebten „Kiss My Name“ gelingt, erst recht bei „I Fell In Love With A Dead Boy“, bei dem Streicher und Bläser, ganz anders als in der behutsameren Pianoversion, zu euphorischen Höhen auffahren um sich anschließend in feierlicher Stille zurücknehmen.
Wenngleich „Cut the World“ auch ein Querschnitt durch das Schaffen der Johnsons ist, ist es doch mehr ein Konzeptalbum als eine Compilation. Deutlich zelebriert die Band hier den Schnitt und den Neubeginn – auf eine Art, die man hier und da als predigend empfinden mag, aber bei Antony nimmt man das auch mal in Kauf. Eventuell ist all dies auch biografisch gemeint. Wie immer es mit Antony und seinen Musikern künftig weitergehen wird, werden sie das aktuelle Jahrzehnt sicher noch ebenso mitprägen wie das letzte.
Label: Rough Trade