Es ist schon beeindruckend, wie erfolgreich sich das Phänomen „Eighties“ in der aktuellen Musikwelt behauptet. Der Bereich angeschwärzter Subkulturen bildet da keine Ausnahme: Schon vor einigen Jahren machte sich eine handfeste Rückbesinnung bemerkbar, Szeneclubs veranstalten Batcave- oder Deathrock-Partys, hybride Retrostile wie Horrorpunk entstanden. Man muss leider hinzufügen, dass solche Strömungen im engeren Szenerahmen eher randständig sind, und nicht alle Ausnahmen sind dann auch wirklich überzeugend. Die Fixiertheit auf immergleiche Interpreten und die beinahe religiös zelebrierte Vorstellung, dass ohnehin früher die bessere Musik gespielt worden sei, steht einer wirklichen Wiederbelebung im Wege.
Interessanter dagegen ist die Beobachtung, dass solche Musiktraditionen heute vor allem von jungen Quereinsteigern am Leben gehalten werden, die kaum Szenesozialisation vorweisen können und sich die entsprechenden Stilkompetenzen wohl eher beiläufig angeeignet haben. Vom derzeit virulenten Genrekonstrukt „Witch House“ bis zu den (für mich eher langweiligen) HURTS-Bubis, von Siouxsie-Lookalikes bis zu basslastiger JOY DIVISION-Huldigung – sucht man die Orte auf, an denen solche Dinge heute vonstatten gehen, so sieht man dort recht wenig Schwarz und kaum SM-Sekretärinnen mit verklemmter Coolness im Gesicht. Stattdessen junge Leute, die aus einem verengten Szeneblickwinkel betrachtet vermutlich „so aus der Kunstecke“ kommen, und denen man ebenso bei MOGWAI oder ARIEL PINK begegnen könnte. Der frische Wind also, den jeder erhofft hat, von dem aber doch keiner so richtig wusste, von woher er denn nun eigentlich wehen sollte – und von dem die selbsternannten Gralshüter dieses Stils vermutlich nur mitbekommen, wenn sie denn extra jemand darauf hinweist. Wie sehr das ganze nun ein vorübergehender Hype ist, sei bislang einmal dahin gestellt, aber schlimm ist das angesichts der oben beschriebenen Stagnation ganz und gar nicht, und warum sollte es das auch sein. Im Gegenteil, als sich zuletzt auf einem Postpunk-Konzert altgediente Szeneprominenz schon während der Vorgruppe an die Bar verdrückte, kam mir vielmehr der Gedanke, dass diese Bands dann wohl alles richtig gemacht haben.
Die Bands waren in dem Fall die irischen VIDEO RIDEO gewesen, deren von Peter Hook-Bässen und Radiosamples durchzogene Postpunk-Extravaganzen schon mal die Zehnminutengrenze überschreiten. Und: die aus Argentinien stammenden Wahlberliner MUERAN HUMANOS, die, was das Chaos perfekt macht, mit ihrem Debüt nun auch noch bei Old Europa Café gelandet sind. Mueran Humanos sind das Paar Carmen Burguess und Tomás Nochteff, und ihr Bandname bedeutet „Stirbt, Menschen!“. Das wirkt dem jungen Alter der beiden entsprechend trotzig und lässt an radikale Antihumanisten denken, wie jenen deutsche Anglisten, der am Höhepunkt des kalten Krieges mit (ironischen?) Sophistereien die erlösende Auslöschung des Untiers Mensch forderte. Oder an jenen verrückten Finnen, der aus Besorgnis über den Zustand unseres Planeten die Dezimierung des homo sapiens fordert und für seine Restbestände einen ökofaschistischen Morgenthauplan vorschlägt. Der Band zufolge verweist der Name aber vor allem auf das Sterben als einzig wirklichen Imperativ und auf die morbide Kehrseite alles Lebendigen.
Entsprechend wird das Menschliche auch auf allerlei Spuren des Verfalls hin abgeklopft, was sich für Leute, die des Spanischen unkundig sind, zunächst in Carmens visuellen Motiven zeigt, die gerne als Videoprojektionen während der Auftritte verwendet werden. Da bekommen vordergründig hübsche Gesichter kurzerhand das Antlitz verbrühter Puppen, oder sie bekommen recht derb eine klaffende Vagina verpasst, wo eigentlich ein lasziver Mund und eine klassische Nase hingehören – das Hässliche und Brutale bricht sich in aller Plötzlichkeit Bahn, vor allem in die heile Welt klassischer Modemagazine. Ein Lucio Fulci könnte hier ebenso Pate stehen wie Baudelaire, dessen „Stück Aas“ nach dem Geschmack der Band sein müsste. Wie um ein unterschlagenes Korrektiv zu allzu idealistischen Menschvorstellungen zu liefern, sehen die beiden allerorts den Verfall, den Wahnsinn, die verdrehten, zombifizierten Augen. Idealisiert und ästhetisiert wird das allerdings schon – schon durch den Vorzeigelook des Pärchens, aber vor allem durch den überaus energiegeladenen Postpunk der beiden, der vom Label nicht ganz zu unrecht mit frühen SUICIDE verglichen wird.
Schon bei „Horas Tristes“ ziehen die beiden sämtliche Register, um einen intensiven Postpunksong zu kreiren. Mit monoton hämmernden Midtemporhythmen und zweistimmigem Sprechgesang fangen sie die Desolatheit einer verlassenen Industrieruine ein und vollziehen im Groove schon hier eine augenzwinkernde Show des Dekadenten. Unaufhörlich entwickelt sich der Song seinem Höhepunkt entgegen, flankiert vom Tomás’ Gitarreneinsatz und Carmens coolem Gesang, der sich am Ende in ekstatische Schreie auflöst. An X-MAL DEUTSCHLAND mag man da denken, auch an eine etwas weniger poppige Danielle Dax. Ähnlich gestrickt ist das (der Videoprojektion zufolge) politisch inspirierte “Leones en China” und das vokallastige “Monstruo”, doch Mueran Humanos können auch mal etwas netter, wenn sie wollen. “Festival de las Luces” besticht mit spacigen Synthies wie aus alten SciFi-Schinken und überrascht mit einem Gesang, der von mediterraner Leichtigkeit getragen ist. Dass es sich bei dem Licht um alles verschlingende Flammen handeln muss, kann man nur erahnen. Anspieltipp Nummer eins ist allerdings der satte Rocksong “Corazon Doble”, der an der Grenze zwischen Noise und Rocknroll mit punkigen Gitarren und coolem Gesang aufwartet. Was immer auch im Text vor sich geht, es ist das pralle Leben, das ein solcher Song feiert.
Sowohl die Musik als auch die Liveperformance von Mueran Humanos leben vom seltsamen Mischverhältnis aus kraftvoller Dynamik und morbider Coolness. Was den Antihumanismus der Band angeht – Masche, fixe Idee, oder doch die künstlerische Verarbeitung persönlicher Zweifel? Das muss den Hörer im Grunde gar nicht so sehr interessieren, denn er fügt der Musik eine Konsequenz und Abgeklärtheit hinzu, die ihrem trotzigen Vitalismus nur zuträglich ist. (U.S.)