VIVIAN VOID: Div.

Ob Vivian Void ihren Bandnamen von den Vivian Girls aus Henry Dargers Buch „In the Realms of the Unreal“ entlehnt haben, kann ich nicht mit Bestimmtheit sagen – ich vermute sogar, dass dem nicht so ist. Die enorme Graphic Novel aus der Feder eines lichtscheuen Dienstboten, die auf rund fünfzehntausend Seiten den Kampf von sieben jugendlichen Amazonen gegen ein kinderversklavendes Terrorregime erzählt, eignet sich allerdings zu gut als Aufhänger, um den Querverweis einfach unter den Tisch fallen zu lassen. Zu siebt sind Vivian Void ja schließlich auch.

Dass Do it Yourself und der Mut zum Dilettantismus noch immer funktionieren und vor allem zu großartigen Ergebnissen führen können, ist eine der Gemeinsamkeiten zwischen dem Artpop der sieben Nürnbergerinnen und Dargers Outsider-Epos. Und abgesehen davon gibt es derzeit wohl kaum eine junge All Girl-Combo, die sich so sehr nach Befreiungsschlag anhört, wie Vivian Void, oder genauer und alphabetisch: Jana, Lisa, Nina, Nina, Sarah, Sina, Steffie. „Div.“ ist zum einen ein massiver Arschtritt in Richtung Langeweile, Phlegmatismus und musikalischer Standards, zum anderen ein reichhaltiges Sammelsurium, eine Kollage aus allerlei treibenden, verzerrten, verspielten, noisigen oder auch einfach chaotischen Fragmenten – zusammengeschnitten aus Studioaufnahmen und diversen Mitschnitten der Außenwelt zu einem Korpus aus zunächst sieben Stunden Musik. In einer Nacht- und Nebelaktion wurde das Material von Stephen Burch, Labelbetreiber von Woodland Recordings und bekannt als The Great Park, auf Albumlänge zurechtgestutzt und gemastert. Was für Schätze da zwangsläufig im Papierkorb landen mussten, will ich erst gar nicht wissen.

Treibend und noisig: Schon die ersten Minuten, wenn sich „Ghost“ mit einem lässigen Rasselbeat nach vorn bewegt, alsbald in groovige Perkussion übergeht und von einer wohlklingenden Melodika begleitet in einer schwindligen Karusellfahrt endet. Oder in der Cheerleader-Parade „Psycho March“, die an einen kräftigen A Capella-Gesang anschließt. Auch der Text über eine versuchte Selbstverpackung und den Wunsch, sich mit falschem Bart wie ein Auto irgendwo einzuparken, ist interessant – ich ist eben ein anderer, wie ein Franzose wohl jetzt sagen würde. Ebenso „The Place“, in dem eine Mädchengang, die mit Minor Threat und Fugazi aufgewachsen ist, ihr Revier verteidigt und den Gegner mit einem Beckenwirbel außer Gefecht setzt. Ein nahezu perfektes Noisepunk-Monster ist „Pretty People“ mit seiner sleazigen Orgel und den fetzigen Imperativen. Der dumpf-verzerrte Klang passt prima und ist übrigens gewollt, andernfalls hätten die Mädchen ja auch etwas anderes als ein Mobiltelefon zur Aufnahme verwenden können.

Verspielt und humorig ihr Song über die „High Heeled Shoes“, mit denen sie noch so manche Bühne zum Zittern bringen werden, und uns allen mit herrlichem Synthietrash die lang ersehnte Genderlektion erteilen – tongue in cheek oder auch nicht. An Heels dachte ich unweigerlich auch beim flamencoartigen Kastagnettengeklapper in verschiedenen Songs. „Icy Red“ und „Basement“, zwei mehrstimmige Stücke mit Spieluhr und Tremolo, spielen mit Sounds aus der Rumpelkiste eines Kinderzimmers – ich hoffe sehr, dass die Band von CocoRosie-Vergleichen weitgehend verschont bleibt (aber vielleicht kennt ja der eine oder andere Schreiber die Soloalben von Meret Becker, auf denen sich ähnliche Klänge und Arrangements finden – entscheidet selbst, ob Vivian Void nun die Model- oder die Riot Girl-Variante davon sind).

Chaotisch zu guter Letzt das ekstatische Poltern und Quietschen in „You Stop It“ und jede Menge zufällig mitgeschnittene Gesprächsfetzen, die immer wieder gnadenlos auf die Hörer losgelassen werden. Die dürfen mitlachen, gemeinsam mit der Band „Scheiße“ brüllen oder einen Crashkurs über Instrumente absolvieren. Den Gegenpart zu solchen kurz eingespielten Zufallsaufnahmen bilden solide Songs, bei denen deutlich wird, dass Vivian Void sehr wohl auch einfach gute, berührende Musik machen können – von der Kleinkunstballade über Sixties-Rock bis zum finalen Akustikstück „Love History“, dass mit Burchs Funktelefon irgendwo in einem Treppenhaus aufgenommen wurde.

Das auf 200 handgemachte Exemplare limitierte Album ist nich nur visuell ein kleines Schmuckstück. Musikalisch ist „Div.“ wie eine grelle Wunderkammer oder ein barockes Kuriositätenkabinett von heute – einmal kräftig durchgeschüttelt und in die Welt geworfen und dabei so vielseitig, dass es den jungen Damen kaum möglich sein wird, auf der Stelle zu treten. Die Gefahr, dass sie sich künftig glätten werden, dass die Arbeitsweise seriöser und der Sound vorhersehbarer wird, besteht natürlich. Ich bin zwiegespalten: Auf der einen Seite gönne ich ihnen, ein erfolgreicher Popact zu werden, vor allem da das Potenzial so offenkundig auf der Hand liegt. Auf der anderen Seite würde ich sie gerne so behalten, wie sie sind. (U.S.)

Label: Woodland Recordings