KORPSES KATATONIK: Œvres Complètes

Bevor Michael DeWitt sein Ritualprojekt Zero Kama begann, dessen Widerhall und Kultstatus sicher sowohl mit der Musik als auch mit dem gewählten Instrumentarium zu tun hat, existierte für etwa ein Jahr von 1982 bis 1983  Korpses Katatonik, ein Projekt, das ganz offensichtlich visuell-musikalisch-thematisch an der ersten Industrialgeneration orientiert war. Von den in den Linernotes als Einfluss genannten Bands (Throbbing Gristle, Cabaret Voltaire, SPK) waren es sicher die letztgenannten, die eine entscheidende konzeptionelle Orientierung boten. Die Beschäftigung mit dem Abjekt, mit dem Verdrängten wird damit begründet, dass all dies als Metapher für die dunkle Seite einer entmenschlichten Gesellschaft gesehen werden könne, die – um die bestehenden Machtverhältnisse nicht zu gefährden – das Abnorme von der Populärkultur fernhalte und unterdrücke. Damit lässt sich Korpses Katatonik in der aufklärerisch-emazipatorischen Tradition der ersten Industrialgeneration verorten, wobei dieser Impetus natürlich auch immer ambivalent gedacht werden kann bzw. muss: Die Beschäftigung mit dem und die Präsentation dieses Verfemten, dieses Geschwisterkindes, das die Gesellschaft lieber auf dem Dachboden ankettet, ist auch immer verbunden mit einer (un)heimlichen Freude an der Transgression und man kann sich vorstellen, dass DeWitt bei einem Titel wie „kcock transzplant“ [sic] diebische Freude hatte. Es ließe sich jedoch nach der Relevanz für heute fragen, wo doch alle Exzesse, Abseitigkeiten in jeder medialen Spielart und Verkleidung zu bestaunen und inzwischen schon lange (ein) Teil der Populärkultur sind. Dass aber die Beschäftigung mit als psychisch abnorm wahrgenommenen Personen (DeWitt entlehnte Tracktitel den Schriften von Patienten der inzwischen geschlossenen Anstalt Maria Gugging) auch heute noch Desiderat ist, zeigt sich darin, dass psychische Erkrankungen viel eher als physische verschwiegen werden. Auch der Tod der schizophrenen Aktivistin Janey Antoniou in England zeigt, dass nicht alles nur zeit- und kontextgebunden ist.

Verglichen mit der Mitte der 90er veröffentlichten CD-Version (des ursprünglich 1983 auf DeWitts Label Necrophile veröffentlichten Tapes) im schlichten Pappschuber, die durch das Artwork einen okkulten Fokus erhielt, ist diese Veröffentlichung visuell wieder etwas näher am Originaltape, zeigt das schlichte Artwork doch das Zerstören eines Teils des menschlichen Körpers, der elementar mit dem Menschsein verbunden ist – ohne Augen kann der Märtyrer hier nur noch durch seine Versehrung (be)zeugen.

Musikalisch erzeugt das Album weniger durch ungezügelte Aggression Irritation als vielmehr durch die teils gespenstisch anmutenden Geräusche: Auf dem Opener „shatok“ murmelt eine kaum verständliche Stimme stockend und stotternd immer wieder das gleiche Wort, dazu kommt verzerrter Rhtyhmus. Auf „enzephallik mortuor“ wird ebenfalls eine Stimme eingesetzt: Es wird gemurmelt und zwischendurch hört man Schreien. Untermalt wird dieses Schreckensszenario von monotoner Perkussion und analogen Geräuschschleifen. Wesentlich aggressiver sind dagegen das ebenfalls von primitiven Rhythmen und Störgeräuschen durchzogene „skarzisko“ oder das von verzerrten, hoch frequenten Bohrgeräuschen bestimmte „okzipital slash“. Dagegen ist „nekom“ fast schon rauer, unruhiger Dark Ambient. Der Höhepunkt des Albums ist das lange „kaltfleisch corporor“, das mit Hilfe eines simplen Mittels ein an Assoziationen reiches Schmerzszenario entfaltet: Die ganzen 15 Minuten über kehrt immer inmitten der dunklen Klangfläche ein Geräusch wieder, das an berstende Knochen denken lässt. Zwischendurch hört man wieder entmenschlichtes Schreien. Hier zeigt sich der Mensch in all seiner Kreatürlichkeit und Versehrtheit, er verlässt die Erde nicht ruhig und banal wie „a cell of/dry skin/Soon to be shed from the earth’s old eyebrows“ (R. Jeffers), sondern als physisch und psychisch deformierter Fleischklumpen.

Der verglichen mit dem Ursprungstape einzige Bonustrack ist „choronzon“ – ursprünglich auf der Necrophile-Compilation „The Beast 666“ veröffentlich, der – wie die Linernotes erklären – etwas anders angelegt und schon der Brückenschlag zu Zero Kama ist: Es wird der Text des von Anfang des 17. Jahrhunderts stammenden Gedichts „Tom o’ Bedlam“ intoniert, den Crowley während eines Rituals 1909 rezitierte. Allerdings ist der Track aber musikalisch fast schon der industriell klingendste. Es scheppert und kracht und der Text wird eher gebrüllt als gesprochen. Als zusätzliche Klangspur scheint DeWitt noch einen Auszug aus Diamanda Galás erster 12′ verwendet zu haben. Auch wenn also der einzige Boustrack den Umschwung zur Beschäftigung mit dem Okkulten schon andeutet, die eben bei Zero Kama konsistenter und konsequenter umgesetzt wurde, so passt er rein musikalisch problemlos zu den anderen acht Stücken, klingt eher nach Schlachthaus als nach Abtei. Dieses Gesamtwerk ist also in sich durchaus stimmig und schaut man sich die Preise für Nekrophile-Veröffentlichungen (seien es die Originaltapes, seien es die CD-Wiederveröffentlichungen über Staalplaat) an, so schließt diese CD eine große Lücke.

Abschließend ließe sich noch bemerken, dass es vielleicht kein Zufall ist, dass nach dieser Phase, in der der Mensch als Schmerz gesehen wurde, unweigerlich der Zwang da war, das Fleisch zu transzendieren.

(M.G.)

Label: Klanggalerie