THE HARE AND THE MOON: Wood Witch

„To fuck up tradition“ – mit diesem Schlagwort hat Alan Trench wiederholt die Notwendigkeit bezeichnet, traditionelle Stoffe, Motive und Spielweisen im Folk eben nicht nur wiederzukäuen oder platt in Rock- und Popstrukturen zu übersetzen, sondern ihnen durch kreatives Gegen den Strich-Bürsten eine neue Vitalität einzuhauchen. In unserem von einigen Jahren geführten Interview nannte er in dem Zusammenhang auch das englische Duo The Hare And The Moon als gelungenes Beispiel. Diese Band verfolgt seit Jahren ihre ganz eigene Vision und Version der englischen Balladenkunst mit ihren dunklen, oft brutalen und gespenstischen Geschichten.

The Hare and the Moon sind in vielerlei Hinsicht eine eigenwillige und mysteriöse Formation. Beide, der Multiinstrumentalist und die Sängerin, bleiben konsequent anonym, geben keine Konzerte und veröffentlichen keine Bilder von sich im unmaskierten Zustand. Dass über die Identität dieser Residents des Dark Folk schnell Spekulationen die Runde machten, versteht sich von selbst.

Musikalisch sind sie ein interessantes hybrides Gewächs. Im Unterschied zu unzähligen Klampfbarden bauen sie ihre Traditionals meist auf Piano, auf vielschichtige halborganische Drones, ab und an auch auf raue E-Gitarren und nicht zuletzt auf einen etherischen Gesang ohne glatte Manierismen, der ganz in der Tradition des Sängerinnen des englischen Folkrevivals steht. In den 90ern hätte ihnen mit der Mixtur ein ganz eigenes Feld irgendwo zwischen Orchis, Sol Invictus und Andrew King zugestanden, und mit ihren perkussiveren Stücken, deren Pauken und Rasseln immer einen starken Ritualtouch haben, hätten sie sicher auch die Tänzer in den Goth Clubs auf ihrer Seite. „Wood Witch“, ihr zweiter Longplayer und mit seinen knapp 80 Minuten Spieldauer eigentlich ein Doppelalbum, ist das Werk, um The Hare and the Moon kennen zu lernen, denn mehr noch als das Debüt demonstriert es die große Bandbreite an Ideen, mit denen sie alten Traditionals und vertonten Gedichten, deren Inhalte um verwunschene Orte, dämonische Liebhaber, Magie und Gewalt kreisen, neues Leben einhauchen.

Ein nächtliches Vogelkonzert eröffnet das auf einem John Masefield-Gedicht basierende „Midnight Folk“, die schwungvoll angeschlagene Harfe verbreitet eine Aufbruchstimmung, die auch im Text besungen wird: Um Mitternacht werden die Pferde gesattelt, doch sind es geisterhafte Rappen ohne Fleich und Blut, und das dunkle Klagen einer Klarinette lässt einen gespenstischen Schauplatz lebendig werden. Das Mitternachtsvolk, die quirligen, verhuschten und keinesfalls immer harmlosen Elfen und ihre Sippschaft begegnen einem noch mehrmals auf „Wood Witch“, in den Irrlichtern, die in „The Bard of Eve“ zu rituellem Tamtam und filmreifem Chorgesang tanzen, in der kindlichen Beschwörungsformel in „Come Unto the Corn“ und natürlich in der hastigen Erzählung vom „Erl-King“.

Im weiteren Verlauf des Albums tauchen aber auch vermehrt menschliche Charaktere auf, deren allzumenschliches Verhalten um einiges tragischer, aber auch schwächlicher erscheint als das frivole Treiben der Geistert: Obsessive Begierde, ein Ringen um Macht, Besitz und Vergeltung treiben sie an, Kummer, Lebensüberdruss und andere Anhaftungen geben „Cruel Henry“, „The Wife of Usher’s Well“, The Cruel Mother“ und „The Willow Tree“ (mit großartig abgeklärten Gastvocals von Tony Wakeford) ihre Stoffe, aus denen man in besseren Zeiten großartige Filme hätte machen können.

Ohne ihren Fokus auf dunklen, entrückten Ambientfolk aus den Augen zu verlieren, entfalten The Hare and the Moon im Laufe des Albums eine beachtliche Bandbreite an Stilelementen: entrückter, hallunterlegter A Capella-Gesang mit betörenden Melodien, schwere Orgelparts, melodramatische Streicher, Rasseln und Tamburin, ein leichter Hauch von Dream Pop in der William Blake-Vertonung „The Dream“, dunkle, zwiespältige Schlaflieder, reißerische Pauken und Filmsamples, vermutlich aus der Hammer-Ära. Nicht zuletzt der etwas an Jay Munly erinnernde Gesang eines gewissen God’s Little Eskimo, hinter dem sich laut Gerüchten die männliche Hälfte des Duos verstecken soll.

Die englische Folktradition ist voll an tragischen und spukhaften Geschichten und immer direkt oder indirekt an die alte, heidnische Mythenwelt gekoppelt – fast ist es etwas verwunderlich, dass all dies, also eine speziell englische Färbung dieser Überlieferungen, nicht viel breiter in der Dark Folk-Tradition der letzten Dekaden aufgegriffen wurde. Klar finden sich Spuren davon in Current 93s „Thunder Perfekt Mind“ oder bei Sol Invictus, auch bei Fire and Ice, die aber viel allgemeiner „nordisch“ orientiert sind, mehr noch in den Arbeiten von Sharron Kraus, die all dem aber mit einem gewissen Forscherinteresse nachgeht. Abgesehen von Orchis sind es v.a. The Hare and the Moon, die sich diesen genuin britischen Themenkreisen intensiver widmen. Dies und die überzeugende Qualität von Platten wie „Wood Witch“ macht sie zu würdigen Nachkommen von Shirley Collins. Jüngst erschien das Werk noch einmal auf 77 Tapes bei Brave Mysteries. (U.S.)

Label: Brave Mysteries