The Moons at Your Door: Current 93, Hypnopazūzu und Alasdair Roberts in Berlin

Current 93 zählen nicht zu den routinierten Live-Bands, bei denen sich über die Jahre fast unvermeidlich gewisse Vorhersehbarkeiten einschleichen. Konzerte gibt es seit jeher eher sporadisch und meist einzeln organisiert, nur selten gibt es so etwas wie Ansätze zu einer kleinen Tour. Zudem verändert sich das Line-up der beteiligten Musiker oft sehr stark, so dass Sound und Songauswahl fast zwangsläufig immer wieder anders ausfallen. Wenn Current 93 mal wieder in der eigenen Stadt auftreten, kann man also alles mögliche erwarten. Dass David Tibet und seine aktuelle Besetzung jüngst in der Berliner Apostel Paulus-Kirche nicht etwa wie beim letzten Auftritt vor rund drei Jahren überwiegend Songs vom immer noch aktuellen Album “I am the Last of the Field that Fell” gespielt, sondern auch einige Klassiker ins Programm genommen haben, stieß wohl bei einem Großteil des Publikums auf Anklang.

Das Konzert unter dem Motto “The Moons at your Door” (der Titel ist einer eher hörspielartigen EP aus dem vorletzten Jahr sowie einer von Tibet herausgegebenen Anthologie fantastischer Erzählungen entlehnt) stand im Kontext eines größeren Rahmens, zu dem auch ein Auftritt einer weiteren Band Tibets, Hypnopazūzu, am Abend zuvor in der Musikbrauerei gehörte. Hypnopazūzu besteht im Nukleus aus Tibet und Martin Glover alias Youth, dem Bassisten von Killing Joke. Unter dem Titel “Create Christ, Sailor Boy” erschien im letzten Jahr das Debüt der beiden bei House of Mythology. Der eher elektronische und in Ansätzen orchestrale Sound der Platte, der gelegentlich mit “Island”, der Kollaboration zwischen Current 93 und Hilmar Örn Hilmarsson verglichen wurde, und Tibets Gesang, der so kraftvoll und melodisch ausfiel wie seit langem nicht mehr, wurde im Schnitt sehr positiv aufgenommen.

Eingerahmt in teils rituell ausgerichtete DJ-Sets von dem Berliner Philip Strobel (vom Label Aufnahme & Wiedergabe) und The Eternal Youth himself und eingeleitet von einer von apokalyptischen Pferdehufen zertampften Einspielung des launigen 70s-Hits “Chirpy Chirpy Cheep Cheep” präsentierten Hypnopazūzu im erweiterten Line-up eine vom Sound her organische und v.a. äußerst druckvolle Version der besten Stücke des Albums. Von den zum Teil recht jung wirkenden Musikern aus Youths Umfeld mit Drums, Synthies, Gitarre und Violine ergänzt, ergab sich ein rockiger Sound, in dem aber auch die rituell-perkussiven Elemente des Albums ihren Platz fanden. Zu den größten Momenten des Konzertes zählte „Magog At The MayPole“, bei dem ein sichtlich ergriffener und von hypnotischem Geigenspiel begleiteter David Tibet die an “A Sadness Song” erinnernden Worte „Neither coming nor going but/WAS/IS/SHALL BE“ mantrartig wiederholte, und das in einen treibenden Vanitas-Kracher verwandelte „The Crow At Play“ mit der an die sterbliche Körperhülle gerichteten Zeile „Your palace and tomb“, die Tibet minutenlang ins Publikum schrie. Ohne nennenswerte Längen war der erste Abend ein gelungener Anfang, und als sich die einzige Zugabe, eine trancehafte Version von “All the Pretty Little Horses” gegen Ende in ein lärmendes Freakout verwandelte, überzeugte auch das.

Der Tapetenwechsel vom ersten zum zweiten Tag, von der kultigenn Musikbrauerei aus den frühen Tagen der Industriearchitektur zur feierlichen Atmosphäre in der Schöneberger Apostel Paulus-Kirche hätte nicht größer sein können, einzige Konstante war eben David Tibet, der an beiden Abenden wesentlich gesetzter und konzentrierter wirkte als auf früheren Konzerten, nur wenige Ansagen zwischen den Songs machte und statt hin und wieder über die Bühne zu tanzen eher ruhig hinter seinem Mikro stand. Dass Kirchenbestuhlung immer nur in den vorderen Reihen ein ordentliches visuelles Erlebnis bietet, muss man in Kauf nehmen, und zu dem m. E. etwas übertriebenen Security Check will ich ebenso wenig Worte verlieren wie zu den etwas saftigen Preisen – insgesamt war der Event in eine anrührende, verzauberte Stimmung getaucht, einiges an Artwork Tibets aus unterschiedlichen Werkphasen wurde, meist passend zu den Songs, an die Wand des Altarraums projiziert und verlieh der protestantischen Schlichtheit des recht großen Gebäudes ein wenig ungewohnte Pracht.

Den Auftakt machte der schottische Folksänger und -Gitarrist Alasdair Roberts, der später auch in der Besetzung von Current 93 mitwirkte, wo er, wenn man so will, den Part von James Blackshaw übernahm. Mit einer Handvoll meist traditioneller Folksongs sorgte er für einen soliden, angenehm bodenständigen Einstieg, sein teilweise etwas spröder und manchmal ins Falsett kippender Gesang bildete einen interessanten Gegenpart zur eher exaltierten Gesangsart Tibets, ein Höhepunkt seines kurzen Sets bildete eine A capella-Verison der Ballade “The Cruel Mother”.

Als Current 93 dann die Bühne in Beschlag genommen hatten, war schon nach den ersten zwei Tracks klar, dass das Konzept ihres Auftritts, ob bewusst intendiert oder nicht, sich einigermaßen deutlich von den Konzerten der letzten Jahre unterscheiden sollte – in einer Besetzung, von der nur der Pianist Reinier van Houdt, die Geigerin Aloma Ruiz Boada und natürlich Andrew Liles die letzten Jahre über im Line-up aufgetaucht sind, schraubte man die wie auch immer zu kategorisierenden Art-, Psych- und Prog Rock-Elemente, die seit den späten Nullerjahren immer zumindest latent vorhanden waren, merklich herunter und betonte stattdessen sowohl die “experimentell”-soundorientierte als auch die akustische Seite des eigenen Stilspektrums. Die Tatsache, dass diesmal kein Drummer mit von der Partie war, und neben Tibet und den genannten Kollegen noch Jack Barnett von These New Puritans und eben Roberts mitwirkten, trug sicher seinen Teil zu dieser Mischung bei.

Das Konzert begann mit einem mir nicht bekannten, dem Klang nach recht alten Musicalstück, das in eine abstrakte Klanglandschaft aus dem “Moons at your Door”-Material überging. Danach begann mit “Those Flowers Grew” der eigentliche Reigen an Songs. Eine feierliche, ernste Aura und ein Hauch von Trauer umgab die Band und den Sänger schon bei diesem Stück, das beinahe das einzige des letzten Albums bleiben sollte – lediglich “I could not Shift the Shadow” wurde noch zum besten gegeben, das auf dem Album von Nick Cave rezitiert wird. Da Tibets berühmter Freund einen Tag später in Berlin gastieren sollte, munkelte man im Publikum teilweise, dass ein Gastauftritt eine nette Idee und durchaus möglich wäre, aber dazu kam es natürlich nicht. Die auf “Those Flowers Grew” folgende Songauswahl bildete mit einer Ausnahme einen ausgewogenen Querschnitt durch die letzten zwanzig Jahre der Bandgeschichte: Das immer wieder ergreifende “Niemandswasser” machte das Konzert schon recht früh für viele zu einer runden Sache, bei “Honeysuckle” vom “HoneySuckle Aeons”-Album wurde der walzerhafte Cabaret-Touch noch etwas mehr betont, “Baalstorm, Baalstorm” sorgte für Dramatik und Momente gesanglicher Entgrenzung, ein unbekannter Track namens “Redhouse” machte neugierig auf das für’s nächste Jahr angekündigte Album “Red”.

Besonders gelungen war die Version von “Then Kill Cæsar”, bei der Aloma Ruiz Boadas Violine, die ohnehin oft als Lead-Instrument fungierte, das Cello von John Contreras ersetzte; mit einer kurzen Perkussionseinlage von Liles bekam der Song einen martialischen Ausklang. Mit den Zeilen “And how I loved the moon / And its sheet of seeds / The moon tiding in your body / The smell of your blood breathing / And its taste in the sea” wurde in dem Song auch einem geheimen Protagonisten des Abends und des Current 93-Kosmos allgemein gehuldigt, nämlich dem Mond, der in den Bildern Tibets in regelmäßigen Abständen über die Kirchenwand flog oder schwebte – ein Symbol, das im Kontext der Band in vielfältigen Bezügen (etwa zur “Moon Music” Coils und zur Person von Tibets verstorbenem Freund John Balance, aber auch zum Konsmos von “In Menstrual Night”) steht, und das diesmal besonders im Zentrum stand. Fast so etwas wie klassisches Neofolk-Feeling kam bei dem einzigen aus den 80ern stammenden Song “Hourglass for Diana” auf, bei dem Liles und Roberts elektronisch und akustisch schrammelten und Barnett und van Houdt einen wabernden Klangteppich beisteuerten. Es war auch einer der Songs, bei denen Tibet unter Beweis stellte, dass er nach wie vor mehr kann als Texte rezitieren, und dass seine exzentrische Kopfstimme immer noch zu wütendem Gekeife taugt.

Nach einigen weiteren Songs wie “The Nudes Lift Shields For war” (von der “Baalstorm, Sing Omega”) und zwei weiteren Stücken von der “HoneySuckle Aeons” endete das Konzert mit der kompletten “Birth Canal Blues”-EP, als Zugabe wurde “Sleep Has His House”, Davids berührende Hommage an seinen Vater, gespielt, und als letztes nicht wie erwartet “Lucifer Over London” oder “Oh Coal Black Smith”, sondern eine originelle, ein bisschen wie ein Shantie vorgetragene Coverversion von “Hushaby Mountain” aus dem 1969er Musical “Chitty Chitty Bang Bang”. “A gentle breeze from Hushabye Mountain / Softly blows over Lullaby Bay / It fills the sails of boats that are waiting / Waiting to sail your worries away”, heißt es da, und so endet auch der zweite Abend mit einem Schlaflied. Eine der zentralen Dichotomien im Werk von David Tibet fällt auch hier wieder ins Auge, nämlich der zwischen apokalyptischen, von rauen (Baal)-Stürmen durchtosten Szenarien, myteriösen Orten wie Niemandswasser, an denen die eigene Existenz als Staub bewusst wird, wo das Studenglas seinen seinen unerbittlichen Countdown zählt, und auf der anderen Seite kindlich-regressiven Traumwelten, in denen sich der trostspendende Schlaf wie eine zarte Decke über alles legt. Gemeinsam ist beidem das Erlöschen.

Mit dem Musical-Stück schloss sich auch der Kreis zum Beginn des Konzertes, und für viele endete sicher ein mehr als zufriendestellender Abend mit feierlichen, wehmütigen, oft schrägen und immer mal für Momente druckvollen Songs. Ein weiteres Thema im Publikum war natürlich die zum Konzert erschienene Lathe Cut, wozu sicher bald etwas von denen zu hören sein wird, die das entsprechende Kombi-Ticket erworben hatten. (U.S., Fotos: Sanja Petrov)