MARC ALMOND: Chaos and a Dancing Star

Trotz seiner vielseitigen Ideen und Interessen hat Marc Almond eine starke persönliche Signatur, die ihn unter vielen Popgrößen seiner Generation hervorhebt. Jedes seiner Alben, ganz gleich ob es mehrheitlich eigene oder gecoverte Songs enthält, ist voll von musikalischen und lyrischen Details, die seine unverkennbare Handschrift tragen, und wenn man im Booklet seines neuen Albums “Chaos and a Dancing Star” blättert und das Auge zufällig auf Zeilen wie “Diamonds in the gutter / Blinded by the light” fällt, weiß man als Fan sofort, dass man wieder in dem märchenhaften Marc Almond-Land ist, das man schon so oft bereist hat.

In den letzten Veröffentlichungen – in “Shadows and Reflexions”, aber ebenso sehr in “A Lovely Life to Live” zusammen mit Jools Holland und dem Rhythm and Blues Orchestra – hat sich Almond deutlich den 60ern zugewandt: als Inspirationsquelle, als Fundus für Songs, aber auch als zeitliches Setting, das Sehnsüchte nährt und erfüllt und zugleich Stoff bereithält, an dem man sich im Interesse der eigenen Selbstreflexion abarbeiten kann. “Chaos and a Dancing Star”, bei dem Almond wieder mit Produzent Chris Braide zusammen gearbeitet hat, knüpft stilistisch zwar an diese Arbeiten an, doch ist die Referenz an die Zeit weniger deutlich, und der glamourös-morbide Opener “Black Sunrise” erinnert tatsächlich so sehr an die frühen 80er, dass man ihn für einen verschollenen und neu eingespielten Soft Cell-Song halten könnte. Ein Hauch von Endlichkeit weht hier durch die getragenen Synthies, die stoischen Midtempo-Takte und die wehmütige Melodie des hochtönenden Gesangs, und die Lyrics sprechen eine deutliche Sprache: Eine letzte Erfüllung, ein letztes Aufbäumen der Leidenschaft wird mit aller Kraft ersehnt, bevor die Dunkelheit uns holt.

Dieses fast aggressive Carpe Diem angesichts der Vergänglichkeit allen Lebens, aller Lust scheint mir das zentrale Thema des Albums, dessen Titel nicht grundlos auf ein bekanntes Motiv aus Nietzsches “Also Sprach Zarathustra” anspielt. Der über die allzu menschliche Enge erhabene Geist setzt auf den besonderen Augenblick und bejaht das Chaos und die Unsicherheit, weil er Freiheit und Schöpferkraft darin findet, verbildlicht im Zeugen eines tanzenden Sterns. Dass dies etwas kitschig klingt und vor Pathos trieft, könnte Marc Almond wohl kaum egaler sein.

In den meisten Songs wird ein lebensbejahender Hedonismus als Antwort auf den Schrecken der Vergänglichkeit gefeiert. Am deutlichsten geschieht das vielleicht in “Dust”, dessen fast luftig-leichte Morbidität an das von Antony vorgetragene kurze “The Beautiful Dancing Dust” von Current 93 erinnert, auf dem auch Almond zu hören war. In “Hollywood Forever”, einer wehmütigen Hommage an die klassische Traumfabrik, wird der Scham vor der Tragikomik des Alterns, der sein “Cabaret Clown” auf “Varieté” noch erlegen ist, eine Absage erteilt und zugleich eine Lanze für die schöne Illusion gebrochen. “When the Stars are Gone” erzählt vom Weitersingen auf dem sinkenden Schiff, und “The Crow’s Eyes Have Turned Blue” mahnt zur Dringlichkeit, das Leben im Angesicht des Todes zu umarmen. Dass “Chaos and a Dancing Star” aber keineswegs eine nur traurige Angelegenheit ist, wird bei den Stücken deutlich, bei denen Huysmans-, Crowley-, Stenbock- und de Sade-Leser Almond den frivolen Genuss besonders deutlich in den Fokus rückt: beim elektrifiziert knisternder 80s-Pop des Titelsongs, der das Nietsche-Zitat enthält, beim schwülheißen Glamrock von “Fighting a War” und dem einmal mehr den 60ern verpflichteten “Slow Burn Love”. Einen besonderen Höhepunkt stellt “Lord of Misrule” dar, bei dem Almonds Held Ian Anderson (Jethro Tull), mit dem er bereits auf der Bühne stand, sein feuriges Spiel auf der Querflöte beisteuert.

Ein Happy End? Für dieses Album fraglos in ästhetischer Hinsicht, doch Almond wäre nicht Almond, würde nicht hinter der einen oder anderen Ecke immer noch die unheilbare Seelenqual – der Torch Song “Chevrolet Corvette Stingray” besingt eines seiner Lieblingsthemen, die Liebe zu einem empathielosen Narzißten – oder der Wahnsinn – in “Giallo” begleiten lateinische Chöre und Morriconesounds die subjektive Kamera des lyrischen Ichs, das in die Rolle des rachsüchtigen Handschuhmörders aus zahlreichen italienischen Thrillern schlüpft – lauern.

So wirkt auch “Chaos and a Dancing Star”, das wie ein Tour de Force-Ritt in 80 Tagen um die Welt fliegt und dabei im Swinging London, in Hollywood Babylon, im Italien Argentos und Fulcis und am Ende in den Wave- und Gothic-Hochburgen der 80er Station macht, an keiner Stelle saturiert, und man kann sicher sein, dass Marc Almond weiterhin wie ein Getriebener fantastiche Alben aufnehmen wird. Wo er in den letzten Jahren diese Menge an Ideen und Energie hernimmt, muss ein Mysterium bleiben. (U.S.)

Label: BMG Rights Management