JOKE LANZ / JONAS KOCHER: Abstract Musette

Unter einer Musette oder Valse Musette versteht man in Frankreich und Teilen der Schweiz einen Volkstanz und die dazugehörende Musik, bei der auf dem Akkordeon Melodien im Walzertakt gespielt werden, zu denen gelegentlich weitere Instrumente wie Gitarren, Klarinette oder Perkussion hinzukommen. In den 60er Jahren, als Music Hall, Autorenkino und andere Bewegungen Frankreich einmal mehr zur Speerspitze ästhetischer Neuerungen machten, erlebte auch diese Tradition eines ihrer großen Revivals. Wer das oft unorthodoxe (oder in unorthodoxe Zusammenhänge eingebundene) Akkordeonspiel des Schweizers Jonas Kocher kennt, ahnt sicher, dass die Musette unter seiner Hand nur wenig puristisch klingt. Dass der ganze Kosmos auf der LP „Abstract Musette“ allerdings einer kompletten Dekonstruktion unterzogen wurde, liegt auch daran, dass er dafür mit seinem Landsmann Joke Lanz genau den richtigen Kollaborateur gefunden hat.

Lanz betreibt neben seiner Band Sudden Infant zahlreiche Sound- und Performance-Projekte solo und in Kollaborationen, und eines seiner Hauptinteressen gilt dem Turntabelism, bei dem Schallplatten, die durchaus auch mal verkratzt oder anderweitig ramponiert sein dürfen, mittels Scratching, Layering oder dem kurzen Anspielen meist zufälliger Auszüge zu ungewöhnlich zweckentfremdeten Soundquellen erklärt werden.

Auf „Abstract Musette“, das einen bisherigen Höhepunkt ihrer Zusammenarbeit markiert, treten die beiden in einen spontan und improvisiert anmutenden Dialog, bei dem sie mit ihren jeweiligen Beiträgen aufeinander reagieren: Mal scheint Kocher mit seinem Instrument Lanz zu folgen, der am Plattenteller mit abenteuerlichen Zitaten jongliert und mit den so entstehenden Instant-Kollagen die Richtung vorgibt. Dann wieder scheint Lanz mit seinen Scratchings und der Auswahl an angespieltem Material auf die Melodien, die Rhythmen und das Tempo des Akkordeonspiels zu reagieren. Dass dies bei einer derart freien Arbeit nie vollkommen rund laufen kann, versteht sich, doch sorgt der warme, strömende Klang des Akkordeons und die nahezu leitmotivisch wirkende Rhythmenfolge doch immer für eine gewisse Abrundung der zerhackten Klänge und der gewagten Tempowechsel, die Lanz aus seinen Decks zaubert. Dazu kommt, dass die Plattenauswahl hier keineswegs beliebig scheint: Man hört Klarinetten und ähnliche Blasinstrumente, und selbst lärmiges Brummen klingt noch ausreichend organisch, um nervige Computerspielsounds, fragmentarisches Murmeln und panisches Geschrei wie herausstechende Statements erscheinen zu lassen. Ähnliches gilt für die stoffeligen Rhythmen, die in einigen Tracks die Waghälse unter uns zum Tanz verführen.

Nicht immer ist sofort erkenntlich, vom wem einzelne Sequenzen kommen, so beispielsweise eine chansonhafte Jahrmarktsmelodie, die sich erst dann als Auszug irgendeiner Platte zu erkennen gibt, wenn merklich an ihrem Tempo geschraubt wird, kurz bevor sie sich in einer schwindelerregenden Schleuderpartie verliert. Eine schwindelerregende Schleuderpartie ist “Abstract Musette” auch im ganzen: rasant, witzig und trotz der titelgebenden Abstraktion alles andere als trocken und verkopft. (U.S.)

Label: Corvo Records