RAISON D’ETRE: Within the Depths of Silence and Phormations

In den 90ern wurde die Musik, die man schon bald Dark Ambient nennen sollte, immer mehr zu einem Bindeglied unterschiedlichster Charaktere, denen allenfalls eine gewisse Melancholie und die Suche nach unbekannten kulturellen Nischen gemein war: in Industrial, Dark Wave und Metal sozialisirte, Nostalgiker, Esoteriker, psychedelisch inspirierte, Freunde des Nordens und viele mehr. Kanonbildend war u.a. das schwedische Cold Meat Industry-Label, unter dessen Acts das von Peter Andersson im Alleingang betriebene Projekt Raison d’être mit seiner Kombination aus elektronischen Klangflächen, Streichern, Glöckchen und gesampleten Chören bald zu einer festen Szenegröße wurde.

Gleichwohl Anderssons Musik in erster Linie über die starke atmosphärische Wirkung kommunizierte, spielten thematische Referenzen durchaus eine gewisse Rolle, so bezieht sich bereits der Projektname auf ein wichtiges Konzept aus der Tiefenpsychologie C.G. Jungs. Spirituelle Themen und Einflüsse aus Filmen flossen in Anderssons Arbeit, was ebenso für seine anderen Projekte wie Stratvm Terror, Bocksholm oder Atomine Electrine gilt. Die beiden Alben mit den genretypisch dick aufgetragenen Titeln “Within the Depths of Silence and Phormations” (1995) und “In Sadness, Silence and Solitude” (1997) erschienen damals auf CD und sind bislang nie auf Vinyl aufgelegt worden. Cyclic Law und Old Europa Café kamen diesem Desiderat vor einigen Monaten nach mit zwei üppigen Rereleases: Beide Alben erscheinen als Doppel-LPs mit exklusivem Bonusmaterial. Exemplarisch soll die erstgenannte hier vorgestellt werden.

Wie in einem ungesehenen und auf seine basalste atmosphärische Grund-DNA heruntergebrochenen Ingmar Bergmann-Setting verbreiten sich andächtige Chorgesänge im imaginären Raum, nostalgisches Ambientdröhnen dichtet die Ritzen ab. Nicht die unregelmäßigen, aber stetigen Pauken, sondern das Verschwimmen und Verwehen der ganzen Szenerie ist hier die eigentliche Bewegung, die die Statik der meist repetitiven klanglichen Details aufhebt. In puncto Motivik werden nahezu alle passenden Register gezogen: Ein Cembalo setzt einen interessanten rhythmischen Kontrast zu den übrigen Sounds, später wehen Frauenchöre durch den Raum, lange Ruhepausen sorgen für eine angemessene Sammlung, sirrende Obertöne blitzen auf, eine Brandung rollt in stetigen Intervallen auf einen zu.

Als eigentliches Leitmotiv in diesem Schauplatz, der im Unterschied zu den unterirdischen Katakomben der frühen Ain Soph das weite, nebelverhangene Land ist, erweist sich das fast allgegenwärtige dunkle Grollen, das hin und wieder plötzlich einbricht, oft aber in unerhörter Selbstverständlichkeit heraufzieht. Nicht nur dieses oder Sprachsamples über gewaltsame Ereignisse oder Momente monumentalen Aufruhrs bis zur blanken Panik machen bewusst, dass diese Musik Spannung erzeugt statt Entspannung zu bieten, denn ein gefahrvoller Unterton ist durchgehend zu spüren. Ob dieser auch der Loop-Struktur geschuldet ist, die man als Fan solcher Musik oft für selbstverständlich hält, und die all die schaurig-schönen, dunkel-nostalgischen Versatzstücke aneinander reiht und zu einem Zombie ihrer selbst macht? Ist man dem Reiz dieser Künstlichkeit erst verfallen, steigert sich das Charisma dieser Musik zu einem unwiderstehlichen Sog.

Die remasterte Neuauflage zusammen mit fünf weiteren Tracks aus dem Zeitraum, die damals auf Compilations erschienen sind, ist jedenfalls ein lange überfälliges Ereignis, die Fans können sich neben den obligatorischen Digitalformaten zwischen den 300 schwarzen Scheiben der Standard Edition und den 200 goldfarbenen der Special Edition entscheiden.

Label: Cyclic Law / Old Europa Café