Im Vergleich zu den ausgehendenn Dekaden des 20. Jahrhunderts besteht heute eine relativ große Aufmerksamkeit gegenüber den unter dem Begriff Autismus zusammengefassten psychischen Entwicklungsstörungen. Die unter diesem Begriff gefassten Phänomene reichen von milden Formen – dem sogenannten Asperger-Syndrom, von dem heute nicht mehr alle Fachleute sprechen – und Formen mit weitaus größerem Einschränkungspotenzial, beispielsweise dem frühkindlichen Autismus oder Kanner-Syndrom.
Eine zumindest kleine Schattenseite der größeren Aufmerksamkeit und Sensibilität für dieses Thema besteht darin, dass es im Zusammenhang mit Autismus immer wieder zu Klischeebildungen gekommen ist, sei es dass von Autismus betroffene Menschen einzig über ihre Diagnose definiert werden, das man sich Autismus bei allen Betroffenen relativ gleich vorstellt, dass Autismus grundsätzlich mit Hochbegabung einhergehen müsse u.s.w. Durch reale Fälle allzu oberflüchlich gestellter Diagnosen, aber auch durch die Popularität von Personen wie Greta Thunberg oder Elon Musk entstand bei manchen die Vorstellung, entsprechende Krankheitsbilder seien nur Modeerscheinungen. Über diese Kontroversen und zahlreiche weitere Fragen kann man sich im deutschsprachigen Raum vielleicht am besten auf dieser Seite informieren.
Da die gängige Terminologie um Asperger- und Kanner-Autismus irgendwann ein wenig in den Verruf kam, allzu schematisierte Abgrenzungen zu implizieren, sprach man irgendwann eher vom Autismus-Spektrum, was die fließenden Übergänge zwischen den verschiedenen Ausprägungen betont. Auf diesen Begriff nimmt auch der Titel der vorliegenden Compilation bezug, deren Erlös einer Stiftung zur Unterstützung von Betroffenen und Pflegekräften in Nordengland zukommt.
Steve Strode, Betreiber des Labels Cruel Nature Records und selbst Vater eines von Autismus betroffenen Sohnes, nahm das Thema zum Anlass, das zehnjährige Bestehen seines Labels mit diesem Fundraising-Projekt in Form einer Doppel-MC zu feiern. Dabei war es naheliegend, die zahlreichen Musikerinnen und Musiker, die bisher schon einmal in der einen oder anderen Form auf seinem Label veröffentlicht hatten, um Beiträge zu bitten. Eine erfreuliche Sache ist, dass diese Beiträge, wenn ich nichts übersehen habe, alle in der vorliegenden Form exklusiv sind. Eine andere großartige Seite verdankt sich der ohnehin bestehenden Ausrichtung des Labels, denn Cruel Nature haben von Beginn an ungewöhnlichen, oft Genres verweigernden Arten von Musik, die aus ganz unterschiedlichen Richtungen kommen können, ein Forum gegeben. Wer dunklen alternativen Folk goutiert, experimentierfreudigen Metal, elektronische und elektronakustischer Klangkunst oder alles was gleitet, schwebt und psychedelisch dröhnt, wird mit ziemlicher Sicherheit irgendetwas nach seinem Gusto auf Strodes Label finden. Aber eben auch eine ganze Menge anderer Dinge, die den schon bestehenden Horizont erweitern können. Und so liegt auf “Spectrum” auch ein breites Spektrum an musikalischen Macharten vor.
Aidan Baker, der den Reigen eröffnet, repräsentiert gleich eine Säule des Cruel Nature-Kanons, nämlich den der dröhnenden Soundscapes: Unruhige Drums im Widerstreit mit einer ungleich ruhigen Ambientfläche grundieren “Grounded Hogs”, doch was das Stück krönt ist ein wehmütiges und auf seine weltentrückte Art sogar ein wenig orientalisierendes Saxophon. Eine weitaus introvertierte Dröhnung erfüllt den warmen und von Rauschen und allerlei kleinen, geflüsterten Details erfüllten Schauplatz des Beitrags der Georgierin Gvantsa Narim. Während die geisterhaften Melodien der dröhnenden Hörner bei Nathalie Stern ebenfalls von einem bezaubernden Flüstern begleitet werden, setzen K of Ark eher auf Spannung und marschierede Trommeln. Nah an diesen Szenarien, aber wesentlich experimenteller ausgerichtet sind die hörspielartigen Beiträge von Katie Gerardine O’Neill und St. James Infirmary, die Gesang, Rezitation und leicht angejazzte, z.T. ungewöhnlich bearbeitete Instrumentalparts überblenden, was sich im letzteren Fall als humorige Hymne an das Label entpuppt.
Ungleich derber, räudiger und oft doomig-schleppend gehen Bands wie Pound Land, Lovely Wife, Lush Worker, Omnibadger und Petrine Cross zu Werke. Demonstrativ nach hinten gemischte Vocals, tonnenschwere Gitarren und Bässe, Samples, Fauchen und Krächzen, jaulende Soli, zischelnde Becken und Explosionen hinter Rauch und Nebel machen auch diese – nihilistische? – Seite des Labelprogramms zu einer lohnenden Entdeckung.
Dem zumindest oberflächlich betrachtet entgegengesetzt sind die Exponate eines meist schöngeistigen Songwriter-Folk. Charlie Butlers leicht elektrifiziertes “Eagles Slendour” bezaubert mit sanften, dezenten Pickings vor einer Kulisse, die sich immer leicht bewegt. Eher von einem herzigen, entrückten Gesang getragen ist Clara Engels “Nothing Here Is Is Mine”. Das allein schon wegen der unprätentiösen und naturbelassenen Stimmarbeit – trotz seines surrealen Tremolierens – folkigste Stück stammt von Alan Davidson alias Kitchen Cynics. Wieder einen Schritt in Richtung Poesie und Hörspiel machen Mirrored Lips mit ihrer russischen Rezitation unter einer wehmütigen Klangschicht, während das ähnlich melancholische “Sunday Swimming” von Score in eine ambiente Richtung ausschlägt.
David Colohan repräsentiert mit seinem überblendeten Bild aus lieblichem Fingerpicking und auf den ersten Blick kaum passenden elektronischen Beats den Übergang zu den Künstlern, die eher zu Gitarren-Wave und Postpunk tendieren. Das wäre neben dem Old-School-Gitarrenrock von Holy Island und dem roadmovietauglichen PJ Harvey-Cover von Tankengine z.B. Empty House, dessen “Blue Sky Dreamers” unter wummernden Bässen und Midtempo-Takten eine fließende Grundstruktur durchscheinen lässt.
Im weitesten Sinne in diese Kategorie passen auch Salisman & His Celestial Beings, die selbige natürlich durch ihre Ungreifbarkeit gleich wieder in Frage stellen. Ihr Beitrag ist ein Stück zum frenetischen Mitsingen, vorausgesetzt man findet einen Weg durch das wagemutige Soundgewandt aus derben Riffs, rumpelnden Drums und jeder Menge Rauch. Tatsächlich eine Kategorie für sich bilden die beiden Vertreter einer technoiden elektronischen Musik, namentlich VHSDEATH mit einem monoton-hypnotischen Ravetrack sowie Whirling Hall of Knives, dessen kratziger, knalrriger Beitrag dann noch mal um einiges komplexer ausgefallen ist.
Wenn hier eines deutlich geworden ist, dann dass ich dieses Doppel-Tape an Hörerinnen und Hörer mit einem breiten aber keineswegs beliebigen Musikhorizont richtet. Mit den entsprechenden Vorlieben werden sich garantiert schnell Favoriten unter den Tracks herauskristallisieren. Ich behalte meine für mich, da ich die Compilation zur Feier eines großartigen Labels und zur Unterstützung eine unterstützenswerten Sache als ein Gesamtphänomen betrachte. Ein wirklich besonderes release! (U.S.)