Über die in Beirut ansässige Middle-East-Dependence der Heinrich Böll-Stiftung ist mit Hajar Ibrahims “Beirut’s Underground Music Scene” gerade ein knap 80 Seiten umfassender Band über die vielfältigen experimentell ausgerichteten Musikszenen der libaneischen Hauptstadt erschienen. Beirut ist seit Jahren immer mehr auch international für seine Produktivität in Bereichen wie experimenteller Elektronik und Klangkunst, in der Improvisation und im Postpunk, aber auch im Noise- und Psych-Rock, in folkig angehauchter Avantgarde und in allerlei dröhnenden und lärmenden Künsten bekannt, in denen sich immer wieder ganz eigene kreative Handschriften bemerkbar machen. Die sowohl im Hardcover als auch als kostenloses PDF erhältliche Publikation porträtiert die Stadt und ihre Sounds sowohl in unprätentiösen Fotografien als auch in Texten, bei denen die Musikerinnen und Musiker, die DJs, Store Owner und Studioleute meist selbst zu Wort kommen. Neben der Musik selbst und den verschiedenen Perspektiven auf die Stadt werden eine Vielzahl von Themen besprochen: frühe interaktive Plattformen, Finanzierungsprogramme, Clubs und andere Zentren, Konzerte auf Dächern, Festivals, dem AUB-Campus und dem bekannten ehemaligen Kino, dessen Form heute an ein geköpftes Beton-Ei erinnert. Die Bilder stammen größtenteils aus Hajar Ibrahims eigener Kamera, die manchmal die Metropole verlässt und Vororte wie Bourj Hammoud oder reizvolle Ortschaften wie das in den Bergen gelegene Hammana einbezieht, daneben finden Aufnahmen von Tanya Traboulsi und Marco Bozerji ihren Platz. In seiner kurzen Einleitung setzt Ibrahim die kreative Stadt, die wie er betont mehr für seine experimentierfreudigen kulturellen Seitenpfade als für den populären Mainstream bekannt ist, in einen angemessenen Kontext zu Ereignissen der jüngeren Geschichte.
Während der Bügerkrieg und die generellen Spaltungstendenzen im Land im Verlauf des Bandes wiederholt zur Sprache kommen, nennt der Publizist z.B. die verheerende Explosion im Sommer 2020 und die wirtschaftlichen Krisen der verganenen Jahre. All dies soll nicht als einziger und letztlich reduktiver Hintergrund der folgenden (Selbst-)Porträts verstanden sein – gleichwohl schafft es Ibrahim auch dadurch und im Zusammenwirken mit den Ausführungen der Interviewten ganz automatisch, einer Romantisierungstendenz entgegen zu wirken, zu dem ein westlicher Blick auf eine Stadt wie Beirut gelegentlich neigt. Viele der Beteiligten waren und sind auch immer Thema auf unseren Seiten gewesen, so die vor einigen Monaten in einem Interview vorgestellte Sängerin und Architektin Mayssa Jallad, deren Porträt zusammen mit den Kapiteln über Singer Songwriter und Toningenieurin Julia Sabra (Postcards) und Komponist und Produzent Fadi Tabal ein Special über die renommierten Tunefork Studios bildet. Ebenfalls porträtiert wird die Sängerin, Producerin und Schauspielerin Sandy Chamoun, die jüngst eine Soloarbeit und das Debüt ihrer Band Sanam herausgebracht hat. Ferner der Producer Zeid Hamdan, der mit Soapkills, The New Government, Zeid and the Wings und Bedouin Burger einige Projekte ins Leben gerufen hat. Des weiteren Klangbastler Ziad Moukarzel und das von ihm zusammen mit Mona Haffer, Hans Manja und Elyse Tabet begründete Beirut Synthesiser Centre – eines von weltweit drei Zentren, in dem Interessierte die kreative Arbeit mit Synthies von der Pieke auf und ohne die Bürokratie komplizierter Programme lernen können. Ebenfalls zu Wort kommen Postpunk- und Gitarrenrock-Musiker Paolo Kasbani alias Paō, Multiinstrumentalist Marc Codso (Scrambled Eggs, Lumi, Zalfa), das aus Syien Sstammende Trio Tanjaret Daghet, der mit Jazz- und Folk-Elementen arbeitende Sänger und Musiker Issam Hajj Ali. Vorgestellt wird außerdem der bereits in den 60ern gegründeten und somit langlebeigsten Plattenladen Chico Records, dem Abschluss bildet ein Einblick über die Clubszene der Stadt mit Intervieww mit den DJs Ronin, Rea und Elias Merheb. Vergleichbar mit Compilations wie “Beirut Adrift”, “Past and Future” oder die “Anthology of Electroacoustic Lebanese Music” geht auch “Beirut’s Underground Music Scene” direkt in die Mitte des Geschehens und läd mit seiner Auswahl zum Erleben und Erfahren der Musikszene(n) ein statt sich an die Herkusesaufgabe einer umfassenden Darstellung zu machen. Das Buch ist der Stadt selbst gewidmet.