ANEMONE TUBE: Golden Temple

Im Zentrum von Tokyos Bezirk Minato erhebt sich die Skyline der Roppongi Hills, einer Gruppe von Bürotürmen um den mächtigen Mori Tower, den die kritisch gesinnten unter den Einheimischen in leicht abergläubischer Weise den bösen Turm nennen. In ihrer Wahrnehmung steht er für die Macht, die das Kapital und der entfesselte Konsum auf alle Lebensbereiche ausweitet. Für den Musiker Anemone Tube, der vor einigen Jahren Japan bereiste und am Fuße der Türme das Covermotiv und nicht wenige der Sounds seines aktuellen Albums „Golden Temple“ aufnahm, ist der Ort ein Symbol der kapitalistischen Spatmoderne, der Tower of Evil, den er im gleichnamigen Stück besingt, ist eine Allegorie, die nicht nur in Japan ihre Manifestation hat.

„Golden Temple“ – man mag beim Titel an Mishimas Temple of the Golden Pavillon denken, woraus im opulenten Booklet zitiert wird – ist der dritte Teil von Anemone Tubes „Suicide Series“ und somit Nachfolger von „Dream Landscape“ und „Death Over China“. Ein weiteres mal geht es um Landschaften, die sich in der Spätform unserer Zivilisation herausgebildet haben und die zugleich ihren selbst hervorgerufenen Kollaps symbolisieren. Auf „Golden Temple“ ist all dies noch stärker als zuvor mit textlichen und ikonischen Zitaten und Anspielungen unterfüttert, die viele Fragen stellen und gelegentlich auch die eine oder andere Antwort in den Raum stellen.

Noch deutlicher als auf „Death Over China“ dreht sich auf „Golden Temple“ alles um das Thema der Entfremdung und ihrer apokalyptischen Dimensionen, und wie es scheint wird ein historisches Panorama entfaltet. Im eröffnenden „L’Homme et les Sirenes“ wird gewissermaßen die Ursünde der Entfremdung abgehandelt, der Trick des Odysseus, dem verführerischen Gesang der Sirenen zu widerstehen, oder allgemeiner: durch scheinbare Disziplin, die in Wirklichkeit eine Selbstfesselung ist, über die Natur und ihre Geister zu triumphieren. Dieser Akt, von Homer gefeiert und noch in der Dialektik der Aufklärung als Sternstunde der Zivilisation gewürdigt, erscheint hier als Auftakt einer fatalen Dystopie, zumindest lässt der knochentrockene Schleifsound, der seine destruktive Wirkraft erst nach und nach entfaltet, nichts anderes vermuten.

Von der Irrfahrt des Heroen bis zum finalen Anthropozän in „Anthropocene – The Dark Abyss of Time“ mit seinem an apokalyptisches Flammengeprassel erinnernden Rauschen ist es ein weiter Weg, und der ist mit Marken versehen, die so etwas wie einen Kampf zwischen Sein und Entfremdung anzudeuten scheinen. Auf musikalischer wie textlicher Seite herrscht der Nihilismus des all-encompassing destroyer aus dem zentralen „Tower of Evil“. „Apocalyptic Fantasy“ knüpt mit fatal dröhnenden Kreisbewegungen und einem Sound, der an Gitarrensoli diverser Metalgenres gemahnt, an die vorab veröffentlichte EP „In the Vortex of Dionysian Reality“ an, und schon dass hier auf Fantasy und nicht auf Nightmare verwiesen wird, unterstreicht das Lustvolle, dass dieses Untergangs-Narrativ bis zum kaum verständlichen Sprachample durchzieht – wie im Tarot Crowleys ist der Turm, der hier durch brettharte Noisewände evoziert wird, eine dem Einsturz geweihte comfort zone, deren Implosion gefürchtet und zugleich erhofft wird.

Nach einer eindringlicheren Version des schon auf dem Vortex-Tape enthaltenen „Tower of Evil“, hier mit dem Zusatz „The Ultimate Truth“, führt uns „Negation of Myth“ in die etwas filigraneren Regionen der Anemone Tube-Kosmos, was allerdings nur heißt, dass die nosigen Sounds weniger verwaschen und die einzelnen grobkörnigen Partikel deutlicher herausgearbeitet sind. Wer vergleichbare Passagen auf „Death Over China“ oder auf der Split mit Dissecting Table kennt, weiß, dass solche Tracks immer noch niederdrückend sind, und hier ist es v.a. das kosmische Hintergrunddröhnen, das den Eindruck von etwas Verlorenem aufrecht erhält. Vielleicht ist es diese Evokation von etwas ungreifbar Verlorenem, die auch den vielleicht schöngeistigesten Track „Sea of Lights (Golden Temple)“ so eindringlich macht.

Anemone Tube war stets an einer angemessenen allegorischen Aufmachung interessiert, doch diesmal ist das Booklet besonders reichhaltig gefüllt. Auf der bildlichen und paratextlichen Seite, die hier entfaltet wird, erwacht eine hetrotopische Gegenwelt, die so etwas wie ein nicht entfremdetes Sein zum Thema macht. Teil dieser Gegenwelt, wenn auch auf sehr radikale Art, ist zumindest der erste der beiden Bonus-Tracks, die wie eine integrierte EP unter dem Titel „Arcadia – Dreamland and Myth” angehängt sind: „I, Death, Even Rule in Arcadia” greift das Motiv der Odysse wieder auf und deutet eine alternative Erzähung an, in der der Held dem Ruf der Geister nachgibt und – auf tragische Weise, der Entfremdung jedoch entrinnend, wieder mit seiner eigenen Natur verschmilzt. Tojinbo – Tranquil Sea of Equanimity” wiederum ist besonders doppelbödig, scheinen die vom schweitzer Soundaktivisten Dave Philips abgemischten Feldaufnahmen aus der Nähe einer für zahlreiche Selbstmorde bekannten Felsenklippe in Japan doch eher wieder eine Folge der Entfremdung statt ihre Alternative zu beschwören.

Letztlich bleibt es eine Frage der Interpretation, ob man die schönen Seiten des in „Golden Temple“ beschworenen als eskapistische Gegenwelt, als Einklagen einer veschmähten Kostbarkeit, als reine Dokumentation oder als vorsichtig hoffnungvolle Zukunftsaussicht auf ein Danach lesen will. Nietzsches Umschreibung des Dionysischen als „Ja zu Leben in all seiner Tragik” kommt mir dabei allerdings nicht aus dem Sinn. Sicher ist, dass das immer etwas links klingende Wort Antikapitalismus und das immer etwas rechts klingende Wort Antimodernismus selten so sehr überblendet wurde, wie auf diesem an Andeutungen und Anspielungen reichen Album, das den Geist Pasolinis wie ein Kontrastmittel über die Goldenen Tempel unserer Zeit gießt – und damit selbst die namenlose saufende Schönheit zu Füßen der Kolosses aus Glas und Beton zum Strahlen bringt. (U.S.)

Label: Raubbau