SHIRLEY COLLINS: Lodestar

Tod und Verderben, Pest und Aberglaube, Trennungsschmerz und Mord aus enttäuschter Liebe – Englands Folkmusik ist eine der düstersten, und Shirley Collins’ großartiges Comeback-Album ist voll solch tragisch-morbider Geschichten. Dass es einen Titel wie „Lodestar“ – auf deutsch „Leitstern“ – trägt, mag dabei verwundern, doch die traditionellen Songs aus verschiedenen Jahrhunderten haben viele Seiten. Dass die Geschichten oft vor einer schönen Kulisse stattfinden, meist im Frühling am Morgen in freier Natur, ist nur die offenkundigste, und man könnte sie als Kolorit abtun, gäbe es da nicht noch mehr. Denn letztlich haben die Songs eine unverdorbene, ernsthafte Tiefe, die in all ihrer Tragik auch eine verhaltene, dem Aufmerksamen aber zugängliche Feier des Lebens enthält.

In den letzten Wochen haben es die Spatzen schon von allen Dächern gepfiffen: Shirley Collins, eine der wichtigsten Folkmusikerinnen des zwanzigsten Jahrhunderts, hat nach fast vierzig Jahren zum ersten Mal wieder ein Album aufgenommen und auf gewisse Weise – auch wenn die Stimme zwangsläufig sehr anders klingt – da angeknüpft, wo sie Ende der Siebziger so plötzlich aufgehört hat, als sie noch mit ihrer Schwester Dolly und mit den zahlreichen Inkarnationen der Albion Band spielte. War Collins die ganzen Jahre über eine Vergessene, wie es der Journalist und Commedian Stewart Lee in seinem Essay schreibt?

Wer aufmerksam war, konnte in den vergangenen Jahrzehnten auf das eine oder andere Lebenszeichen stoßen. David Tibet ist seit Langem einer der größten Shirley Collins-Fans überhaupt und brachte die Sängerin schon in den frühen Neunzigern dazu, ein kurzes Intro zum Current 92-Album „Thunder Perfect Mind“ zu sprechen. Auf „The Starres Are Marching Sadly Home“ (1996) und „Black Ships Ate The Sky“ (2006) gab es dann sogar zwei berührende Gesangsbeiträge. Tibet berichtete irgendwann einmal, dass er Collins regelrecht gestalk hatte, um sie zum Singen zu überreden, und in jüngeren Interviews verweist sie selbst auf dessen Einfluss auf ihre Entscheidung zu einem Comeback.

Irgendwann stand ihr tatsächlich, wie sie sagt, wieder der Sinn nach Shirley Collins, und so ist nach einem kurzen Liveauftritt vor zwei Jahren tatsächlich dieses Album entstanden – an wenigen Tagen in ihrem Haus in Sussex mit technischer Unterstützung von Ossian Brown und Stephen Thrower (beide Cyclobe) und einer kleinen Band, zu der neben einigen Veteranen des englischen Folk auch der umtriebige Drummer Alex Neilson (Trembling Bells, The Directing Hand, Will Oldham, Current 93 und einige mehr) zählt. Mit ihrer Hilfe hat Collins ein Album eingespielt, das, in der Hauptsache auf Gesang und schlichtem Gitarrenpicking aufbauend, nicht zuletzt auch durch sein auf alle Dramatik verzichtendes Understatement so stark berührt.

Die eingangs genannten Motive kommen schon im Opener vor, einem zehnminütigen Medley, das mit dem Traditional „Awake, Awake“ beginnt. Man datiert den Song in die Zeit der großen Pest, und die Endzeitstimmung, die Shirley auf unnachahmlich zurückgenommene Art ins Spiel bringt, beeindruckt noch heute. Ein dröhnendes Drehleier- und Mandolinen-Stück aus der Feder des hier auch als Musiker beteiligten Ossian Brown leitet über in das frohsinnige „May Carol“, dessen Melodie leicht an „Sir John Barleycorn“ erinnert und mit einer instrumentalen Tanzeinlage zum Abschluss kommt – somit sind schon die ersten zehn Minuten der Platte eine wahre Enzyklopädie der Emotionen, die stets ineinander fließen, denn auch die abschließenden Tap Dance-Nummer legt in all ihrer Ausgelassenheit ihre Molltonart nicht ab.

Manche bescheinigen diesem wechselhaften Auftakt fast eine Torhüter-Funktion, sehen ihn als musikalische und emotionale Hürde, bei der gleich alljene resignieren, die nette, kitschige Folkmusik erwarten. Bei aller Sprödheit und fernab aller Gefälligkeit würde ich „Lodestar“ aber eine durchaus zugängliche Schönheit attestieren. Auf deren Basis zieht sich das Zwiespältige, Grenzgängerische zwischen Schönheit und Zivilisationsbruch, zwischen leiser Melancholie und tiefschwarzem Humor durch alle Songs.

Gerade letzterer lugt oft um efeuumrankte Hausecken oder taucht ganz unvermittelt im Morgennebel auf. Noch recht subtil und verhalten in der die menschlichen Schwächen so schonungslos bloßlegenden Rache-Ballade „Cruel Lincoln“, die man auch als „Long Lankin“ kennt, oder in „Death and the Lady“, in welchem der Tod als älterer Herr mit vollendeten Manieren sein unbestechliches Werk tut – Shirley hat dieses Traditional schon 1970 gemeinsam mit ihrer Schwester an der Orgel interpretiert, in der neuen Form wird die reife, brüchige Stimme von einer bluesigen Slidegitarre begleitet. Offener zeigt sich der morbide Schalk in „The Rich Irish Lady“, bei dem ein enttäuschter Verehrer sich schon auf den Tag freut, an dem er auf dem Grab seiner einst Angebeteten tanzen kann – Shirleys Band schließt das Stück kurzerhand mit einem unbekümmerten Tanzstück ab. Die englische Folk-Tradition hatte seit jeher ein großes Faible für surprise ending stories mit ironischen Wendungen, und Shirley Collins scheint daran eine besondere Freude zu haben. Frohsinn in ungebrochener, wenngleich stets bissiger Form gibt es in „Pretty Polly“ und in der launigen Posse „Old Johnny Buckle“, ein großer Spaß für alle, die Songs wie „Misery Farm“ lieben.

Durch seinen französischen Text sticht „Sur Le Borde de L’Eau“ heraus, das einige vielleicht von einem anderen Interpreten aus der Serie True Detective kennen. Schon auf „Anthems in Eden“ sang Shirley französisch, auf diesen Song stieß sie allerdings schon eine Dekade früher, als sie zusammen mit Alan Lomax in den amerikanischen Südstaaten mündlich tradierte Lieder dokumentierte. Darunter auch diesen Song in der Cajun-Tradition in Louisiana.

Es ist interessant zu sehen, wieviel von der natürlichen Klarheit ihrer jungen Stimme, die sehr wohl das Ornament kannte und doch von jeder Süßlichkeit frei war, auch noch im tieferen, gebrochenen Gesang der 81jährigen enthalten ist. Das beeindruckt auch gerade deshalb, da man die Reifung ihrer Stimme, im Unterschied zu Kollegen wie Leonard Cohen oder dem gerne als Vergleich herangezogenen Johnny Cash, nicht über die Jahre mitverfolgen konnte. Collins verlor in den späten Siebzigern nicht nur die Lust am Singen, sondern aufgrund eines persönlichen Traumas vollends ihre Fähigkeit dazu, eine Blockade, die als Dysphonie bezeichnet wird.

Die von vielen Journalisten aufgegriffene Geschichte über eine enttäuschte zwischenmenschliche Beziehung zu jemandem in ihrem direkten musikalischen Umfeld wäre selbst ein guter Stoff für eine der Balladen, die sie so gerne interpretiert – nur dass ihre Geschichte, mit „Lodestar“ als einer unerwartet erfreulichen Wendung, einen weit weniger düsteren Verlauf nimmt. Das beste Fazit hat David Tibet bereits formuliert: „The new record is a masterpiece, and certainly one of her finest, and most surprising. She has so much more to give, so much more to do“. Dem gibt es nichts hinzuzufügen. (U.S.)

Label: Domino Records