COIL: Musick To Play In The Dark

Man stelle sich eine Philip K. Dicksche Alternativrealität vor, in der es kein Internet gibt. Der Einfachheit halber ignorieren wir alle anderen gesellschaftlichen Konsequenzen und konzentrieren uns auf einen Aspekt: Die Rezeption von Musik findet noch weiterhin so (analog) statt wie vor einigen Jahrzehnten. In dieser Welt gibt es jemanden, der schon mehrfach über diese enigmatische Band namens Coil gelesen hat, in deren Gründungsmanifest es hieß: „The price of existence is eternal warfare.“ Peter „Sleazy“ Christpherson und John Balance sind inzwischen tot, die Musik kennt unser Protagonist noch nicht, er hat bisher nur so faszinierende Titel gelesen wie „How To Destroy Angels“, „Horse Rotorvator“ oder „Astral Disaster“. Auf der letzten Plattenbörse hatte zwar ein Händler ein paar Tonträger der Band, doch diese waren so überteuert, dass er passen musste. Nun geht er eines Tages durch die Regale des Kölner Saturns und stellt fest, dass es inzwischen dort ein Fach für Coil gibt, in dem sich sogar einige Tonträger finden lassen, die zwar nicht billig, aber auch nicht so exorbitant teuer sind wie die letzten, die er gesehen hat. Er greift also zu und kauft sich auf einen Schlag das Doppelalbum „Sarah Dale’s Sensual Massage“, „The Gay Man’s Guide To Safer Sex“ und eine 12“ namens „A Prison Of Measured Time“. Zuhause angekommen zieht er den ersten Tonträger aus der Hülle, legt ihn auf den Plattenspieler und ist irritiert und enttäuscht, denn das, was er da hört, hat wenig mit dem zu tun, was er sich in seinem Kopf vorgestellt hat. Er kann auch nach dem Hören aller drei Veröffentlichungen nicht nachvollziehen, warum es sich bei Coil um solch eine Kultband handelt, denn die Musik gibt das nicht her.

Schwenk in unsere Realität: Tatsächlich hat man seit einigen Jahren den Eindruck, dass das Vermächtnis von Coil durch unautorisierte und nachbearbeitete Tonträger beschädigt ist. Verfügbar waren plötzlich mediokre und sekundäre und Aufnahmen, während die zentralen Alben nicht erhältlich waren. Das amerikanische Label Dais macht nun endlich ein Album aus Coils Spätphase wieder verfügbar, das sicher zu den zentralen Werken (nicht nur dieser Periode) gehört.

Nach dem 1991 erschienenen „Love’s Secret Domain“ arbeiteten Coil über die Jahre hinweg immer mal wieder an einem Album für Trent Reznors Label Nothing. Wie so oft bei Coil gab es eine Reihe von (Arbeits-)Titlen: u.a. „God, Please Fuck My Mind For Good“, „International Dark Skies“ und „Backwards“. Ganz glücklich waren Balance und Christopherson mit dem Material nicht und auch wenn Danny Hyde immer wieder behauptet hat, der Hauptgrund, warum das Material damals nicht veröffentlicht worden sei, sei Ärger mit und über „grey men“ der Plattenindustrie gewesen, so ist das doch eine Verdrehung der Tatsachen, denn tatsächlich wiesen Balance und Sleazy in Interviews darauf hin, dass ihnen das Material letztlich zu konventionell erschien. In den 90ern war dann auch die Zeit der Abzweigungen, der Nebenprojekte: Da war ElpH mit der „100% recycled music“, die langen Drones auf Time Machines  und das atmosphärische Black Light District. Nach diesen weitgehend instrumentalen Veröffentlichungen gab es einen erneuten Fokus auf Balances Stimme und ein (natürlich auch immer wieder aufgebrochenes) Songformat mit  der im Frühjahr 1998 begonnenen Reihe der vier EPs, die anlässlich der Sonnenwenden und Tag- und Nachtgleichen veröffentlicht wurden (später als Doppel-CD als „Moon’s Milk In Four Phases“ mit Stapleton-Artwork zusammengefasst). Es folgte „Astral Disaster“, ursprünglich in einer Auflage von nur 99 Exemplaren auf Prescription veröffentlicht und ein Jahr später in erweiterter und überarbeiteter Form erneut herausgebracht.

In dieser extrem produktiven Zeit erschien 1999 ebenfalls „Musick To Play In The Dark“, ein Album, das genau 60 Minuten lang all diejenigen, die glauben, dass die wichtigsten Alben einer Band am Anfang ihrer Karriere entstehen, Lügen straft. In dem von bedrohlichen Synthtönen eingeleiteten „Are You Shivering“, „an old title finally realised“, wie es damals in den online nachgereichten Linernotes hieß, findet sich der programmatische Satz: „This is moon musick“. Coil wiesen in Interviews darauf hin, dass sie nun lunare Musik spielten, so sagte etwa Balance im Gespräch in The Wire damals: „[W]e’ve deliberately decided to go from solar to lunar aspect. We just decided to become completely open to whatever happens: make more reflective music.“ War „How To Destroy Angels“, die Debüt-EP von 1984, „ritual music for the accumulation of male sexual energy“ und stand im Zeichen von Mars (der Legende nach wurde Coil damals Misogynie vorgeworfen -  etwas, das man eher heutzutage von einigen jedweden Kontext bewusst ignorierenden Vertretern der Generation Woke erwarten würde), lag der Fokus nun auf dem Lunaren, Weiblichen, Wechselhaften (der Mond ist „inconstant“, wie es einem der berühmtesten Dramen Shakespeares heißt).

Dem Titel enstsprechend durchzieht das Album, das in der Besetzung, Balance, Sleazy, Thighpaulsandra (ohne den sich Coil wohl nie als Liveband entdeckt hätten) und Drew McDowall aufgenommen wurde, elektronisches Kinistern, das das Geräusch eines Lagerfeuers illustrieren soll. Die im oben zitierten Interview angesprochene Offenheit charakterisiert auch dieses Album, denn die Stücke unterscheiden sich von der Herangehensweise: Das ausufernde, apokalyptisch betitelte „Red Birds Will Fly Out In The East And Destroy Paris In A Night“, musikalisch “90 % Thighpaulsandra’s”, nähert sich, “Rubycon”  zitierend, Tangerine Dream. Auf dem leicht jazzigen, von schleppenden Piano durchzogenen „Red Queen“ intoniert Balance: „And the people who perceive it/Repeat it, distort it, improve it, update it/Slightly change it/And these people believe it/And write it all up for you/And is it more real? “ Ein Text, über den Balance sagte: “This is about the phenomena that I see in media-based people that if you say something three times then, like the Red Queen in Lewis Carroll’s books, it becomes true (or perceived as true).” Noch immer also Musik zur Zeit. “Broccoli”, mit einem der seltenen Vocalauftritte Sleazys, handelt von „greens and ancestor worship“. Beim vorletzten Auftritt Coils im Londoner Oceanclub thematisierte Balance damals den endlosen Kreislauf der Gewalt, der in Familien perpetuiert wird (und der sich pointiert im sprichwörtlich gewordenen Larkin’schen „They fuck you up, your mum and dad“ zusammenfassen lässt). Auf dem weitgehend instrumentalen „Strange Birds“ flüstert Balance inmitten des digitalem Knisterns, seltsamen Geräuschen und Vogelzwitschern,: „One day your eggs are going to hatch and some very strange birds are going to emerge“, und das klingt fast wie eine Drohung. Abgeschlossen wird das Album von einem der schönsten Stücke Coils, dem melodischen „The Dreamer Is Still Asleep“ mit der für Coil so typischen Ablehnung des Rationalen mit dem (William Blake zitierenden) Aufruf „May the goddess keep us from single vision/And Newton’s sleep“. Eine erweiterte Version spielten Coil mit dem Untertitel „The Somnambulist In An Ambulance“ während ihres ATP-Auftritts (dokumentiert auf der CD „And The Ambulance Died In His Arms“). Im Jahr 2000 veröffentlichten Coil einen zweiten Teil, auf dem Ideen des Vorgängers wieder aufgegriffen wurden ohne auch nur einen Moment abgegriffen zu klingen (es heißt, dass im nächsten Jahr Dais auch dieses Album neu veröffentlichen werden).

Dieses Album führt einem auf jeder dieser 60 Minuten noch einmal vor Augen und Ohren, wie sehr Coil fehlen, denn um den titelgebenden Träumer des letzten Stücks zu paraphrasieren: Coil were inventing landscapes. (MG)

Label: Dais Records