MAYSSA JALLAD: Marjaa

Die libanesische Hauptstadt Beirut galt in den mittleren Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts als kulturell reizvolle und wirtschaftlich aufstrebende moderne Metropole, mit deren Image als internationale Projektionsfläche im Nahen und Mittleren Osten damals vielleicht nur Teheran mithalten konnte. Da die Stadt bei Geschäftsreisenden und Urlaubern beliebt war, avancierte in den 60ern und frühen 70ern v.a. der Hoteldistrikt, ein umfangreiches Arreal im Nordwesten der Stadt unweit der großen Universität und der Strandpromenade, zu den architektonischen Symbolen des Booms. Fast mutet es wie eine grausame Ironie des Schicksals an, dass gerade dieser Ort und seine noch jungen (und teilweise unfertigen) Bauwerke schon bald, nämlich in den ersten Jahren des Bürgerkriegs 1975-76, zum Schauplatz der Ereignisse wurde, die eine lange Zeit des Leids und der Depression einleiten sollten.

Aufgrund ihrer strategisch interessanten Lage zwischen Meer und Innenstadt wurden die meist hohen und schnell leerstehenden Gebäude, die zuvor auch vielen Journalisten und Geheimagenten eine Unterkunft boten, zu einem hart umkämpften Ort für die verschiedenen Bürgerkriegsparteien, die sich sowohl anhand politischer Ideologien als auch anhand zum Teil internationaler Allianzen und nicht zuletzt religiöser Zugehörigkeiten definierten – Aspekte, die letztlich stark miteinander verflochten waren und die damals die Weichen stellten für teilweise bis heute bestehende Spaltungen innerhalb Beiruts. Die damals entstandene Separation der Stadt in einen muslimischen Westteil und einen christlichen Ostteil ist vielleicht nur die offensichtlichste.

Diese ersten Hochhäuserkämpfe der Geschichte, die bald als Schlacht der Hotels bekannt wurden, wurden vielfach medial übertragen und waren in der Folge auch immer wieder Stoff für künstlerische Auseinandersetzungen z.B. in bildender Kunst und Film. In mehrfacher Weise hat sich in der jüngeren Zeit die libanesische Sängerin und Musikerin Mayssa Jallad (ehemals Safar) dem Thema gewidmet, die zugleich als Architektin und Hochschullehrerin arbeitet und vor wenigen Jahren ihre MA zum Battle of the Hotels verfasst hat. Sie sieht die Architektur als den eigentlichen Protagonisten dieses Kriegsabschnitts. Gerade hat sie auch ein – soviel sei vorweggenommen: beeindruckendes – Album zu dem Sujet fertiggestellt, das musikalisch ein ganz eigenes Terrain zwischen folkig angehauchter, klassischer arabischer Songwritermusik und experimenteller, cinematisch eingefärbter Soundart bewohnt, und an dem eine Gruppe an Gästen beteiligt sind, die sich wie ein halbes Who is Who der Beiruter Experimenalszene liest. Auf unseren Seiten war sie bereits Thema durch ihren zusammen mit Khaled Allaf produzierten Beitrag zur Compilation “Beirut Adrift”, der – auch das sei vorweggenommen – wesentlich poppiger ausgefallen ist als das hier vorliegende Album.

“Marjaa”, das den Untertitel “Battle of the Hotels” trägt, hat den Plot eines Romans oder Films. In seinen ersten vier Songs geht das lyrische Ich durch eine Stadt der Wolkenkratzer und Korridore auf der Suche nach den alten, verschlungenen Wegen. Eine melancholische Schwere liegt in den mollastigen Melodiebögen, die Gitarre und Oud entspringen, und in dem Gesang, der wie verloren vom Wind hin und her geweht wird und von einer alten Straßenkarte erzählt, die einem Wege weist, die heute verbaut sind. Und man spürt die Geister dort, die Geister der Scharfschützen und all der anderen, die dort vor Jahren für die eine oder andere Seite gekämpft haben, an denen Rache geübt wurde oder die selbst Rächer waren und doch irgendwann selbst das Ziel einer Kugel wurden. Das Ende des alten Beirut der verwinkelten Gassen jedoch fand schon vor dem Krieg statt, doch es wurde (auch) von gerade den neuen Gebäuden verdrängt, die bald eine zentrale Funktion im Krieg haben sollten. Abgeklärt und einsam wirken diese ersten Tracks, bei denen Jallad von der Oudspielerin Youmna Saba, dem Gitarristen Marwan Tohme und dem Elektronik-Virtuosen Fadi Tabbal begleitet wird, doch es gibt auch Raum für versteckte Heiterkeit in “Baynana” und für aufwühlende Emotionalität in dem von hypnotischem Strumming geprägten “Mudun”, das eines der stärksten Stücke des Albums ist. An wenigen Stellen liegt der Schatten der Vergangenheit mit seinen Drohgebärden so schwer auf der Gegenwart.

Nach diesem Stück gibt es einen Szenenwechsel, denn von nun an werden die historischen Ereignisse selbst aus dem Blickwinkel einer ganz anderen Gruppe von Beobachtern betrachtet: Es sind die Hotels selbst, die während des Krieges die Kämpfe zwischen den “Blauen” (den christlichen Nationalisten) und den “Roten” (den pro-palästinensischen Linken aus der muslimischen Bevölkerung) hautnah – oder besser wandnah – erleben. Fast meint man, die historische Distanz im Klang der Musik und v.a. der Stimme zu spüren, die wie durch eine vergilbte Schicht ans Ohr dringt und zugleich ganz nah wirkt und einen ebenso nah an die Ereignisse heranzieht. Aus dem irreal anmutenden Rumpeln von “Haigazian” entwickelt sich die pulsierende Spannung von “Burj Al Murr”, in dem Pascal Semerdjians jazzige Drums mit gelegentlichen Exzessen die Kulisse bildet für einen schonungslosen Vortrag: Das Hotel beschreibt fast nüchtern die Vorgänge in seinem Körper, den roten Sniper, der durch die Augen des lyrischen Ichs tötet. Doch nichts bleibt wie es ist, die stoisch wirkende Beobachtung wandelt sich zur Klage vor dem Hintergrund apokalyptischer Snaredrums. Auch der feinsinnige Darkfolk von “Markaz Azraq” mit seiner straff gespannten Nylongitarre und dem fragilen Gesang transportiert diese abgeklärte Desillusioniertheit, aber manchmal reicht eine einzelne ins Wehmütige kippende Note, um das komplette Szenario in einen trostreichen Zauber zu tauchen. Unter der Oberfläche ist es die Geschichte einer flüchtigen Empathie, denn das Haus und all die darin und davor kämpfenden erleben die gleichen unerwarteten Gefühle.

Im ähnlichen betitelten “Markaz Ahmar” – es handelt sich dabei um zwei benachbarte Hotels, in denen es am gleichen Tag zu Kampfhandlungen kam – teilt sich Jallad den Gesang mit Postcards-Sängerin Julia Sabra, und man fühlt sich in einen abgedunkelten, von Rauch erfüllten Raum, und wieder ist die endzeitliche Stimmung mit Händen zu greifen. Wie Vergangenheit, Gegenwart und eine ungewisse Zukunft überblenden sich in “Al Hisar” die Geräusche von Motoren mit dem mystischen Klang einer Buzuk, deren erregtes Strumming wie ein Alarmsignal aus einer anderen, vielleicht verlorenen Welt erklingt. Dem Holiday Inn, das erst kurz vor Kriegsbeginn seine Türen öffnete und das für mehrere Monate Schauplatz der erbittertsten Kämpfe war, sind gleich zwei Stücke gewidmet, doch statt martialischer Töne wird hier eher die sich wie Klebstoff ziehende Zeit eingefangen in einer in Sirup paralysierten Stimmung und einem müde gewordenen Gesang. Die schweren Synthies von Sary Moussa tragen nicht unwesentlich zu diesem Gefühl bei, und nicht jeder hätte dies so überzeugend umgesetzt ohne dabei langweilig zu sein.

Wenn beim Ausklang von “Al Irth” Jallads klagender Gesang noch einmal, diesmal begleitet von den Metallophonklängen der Künstlerin Yara Asmar, unter ambientem Sirup erklingt und stärker im Ohr hängen bleibt als die gleichzeitig hörbaren Radiodurchsagen, ist auch etwas beruhigendes spürbar, das schwer zu deuten ist. Entspringt es einem zwiespältigen Gleichmut, der auf die Erschöpfung folgt? Oder einer schüchternen Freude darüber, dass das schlimmste zumindest für diese Protagonisten aus Stahl, Beton und Glas vorbei ist? Man muss diese Fragen nicht beantworten, v.a. wenn man nie selbst involvierter Zeuge von Häuserkämpfen war und Kriege nur aus Medien kennt.

Es waren wohl v.a. die Kämpfe im und um das Holiday Inn, heute ein gruseliges skelletartiges Mahnmal, welche die Teilung der Stadt besiegelten. Heute, aus dem Blickwinkel einer Generation, deren Lebenswelt vielfach von der Nachwirkung dieser Ereignisse geprägt ist und die ihre ganz eigenen Konflikte auszutragen hat, sollte “Marjaa” vor allem eines sein: Ein Stück Erfahrung, weitergegeben in einem ästhetisch großartigen musikalischen Werk, auf das sich die darin eingefangenen Ereignisse nicht in der einen oder anderen Form wiederholen. (U.S.)

Label: Ruptured