Zu den reichhaltigsten Platten, die in diesem Jahr das Licht der Welt erblicht haben, zählt fraglos “Aykathani Malakon” der libanesischen Band Sanam, die so etwas wie eine Supergroup ist, da ihre Mitglieder alle in anderen Bands oder solo aktiv sind und in ihrem Land keineswegs unbekannt. Mindestens im Falle der Sängerin Sandy Chamoun, des Drummer Pascal Semerdjian und des primär für die Elektronik zuständigen Anthony Sahyoun sollte das auch bei unseren Lesern gelten, und auch die Namen Antonio El Hajj Moussa (Bass, Elektronik), Farah Kaddour (Buzuq) und Marwan Tohme (Guitars, Elektronik) sowie der des Studiomannes Radwan Ghazi Moumneh sind hier schon vereizelt gefallen.
Die Idee zu ihrer furiosen Mixtur aus improvisiert anmutendem und immer mal noisigen Rock, arabischsprachiger Poesie und Ansätzen regionaler Populärmusik ging auf einen Aufenthalt des Norddeutschen Hans-Joachim Irmler (Faust) zurück, der für das Irtijal Festival vor zwei Jahren nach Beirut reiste und eine Band für einen Workshop und Auftritt zusammentrommelte. Die Vorbereitungen dazu waren auch die Geburtsstunde des vorliegenden Debütalbums, das einige Monate später in einem abgelegenen Ort in den libanesischen Bergen live in einem kleinen Studio aufgenommen wurde. Dass man unter Umständen – soviel sei gleich zu Beginn vorweg genommen – ohne die entsprechenden Sprachkenntnisse die Texte nur in ihrer sinnlich-atmosphärischen Dimension wahrnimmt, tut dem ästhetischen Wert des Albums keinen Abbruch.
Der Titel “Aykathani Malakon (An Angel Woke Me)”, der in arabischen Lettern “صنم – أيقظني ملاك” lautet, entstammt einem Gedicht des libanesischen Lyrikers Bassem Hajjar, welches gleich im Opener vertont wird. Dieser startet mit einer aufgeweckten Saitenmelodie, die gut zum Titel passen will, doch schon bald bringen die restlichen Instrumente eine Zerfleddertheit ins Bild, die an eine apokalyptisch tobende Karusellfahrt erinnert und vor deren Kulisse Chamouns Gesang, der recht bald auftaktlos einsetzt und in seinem leicht erschöpften Tonfall an ihr ungleich noisigeres Soloprojekt anknüpft, ungemein stoisch wirkt. Auch im weiteren Verlauf entpuppt sich der theatralische Kontrast zwischen Understatement und musikalischer Eruptivität als ein starkes Stilmittel, und auf gewisse Weise findet sich dies auch im Zusammenspiel von aufgeweckt tanzbaren Rhythmen und einem desolat detonierenden Glockenloop im folgenden “Bell”. Was hier anfangs wie eine straighte Fahrt durch eine instrumentale Klanglandschaft anmutet, offenbart mit der Zeit immer neue Ideen: Geheimnissvolle Ornamente auf der Bouzouk, kratzige E-Gitarren, die an diverse Schnittstellen von Krautrok und Wave erinnern und letztlich wieder Chamouns Gesang, der irgendwann einsetzt. Das Video mit dem Tänzer Eid Hemaoui einer in Tripoli ansässigen Sufi-Gruppe gibt all dem eine weitere Note.
“Ayouha Al-Taiin Fi Al-Mawt (He Who Stabs Death)” ist ganz um einen von der Sängerin diesmal nur rezitierten Text des Dichters Paul Chaoul herum gebaut: Schon im noch ganz ohne Instrumente beginnenden Auftakt klingt ihre Stimme entschlossen und kämpferisch, was durch einen leicht nervösen Unterton noch untermauert wird. Setzen die Instrumente – zischelnde Becken, Gitarren und einiges mehr – ein, bleibt diese Haltung noch lange bestehen, erst mit der Zeit, wenn sich auch die musikalische Kulisse immer mehr in Tempo und Fülle steigert, überschlagen sich auch die stimmlichen Ereignisse, eine spannungsvolle Aufgeregtheit verbreitet sich und man wartet nur noch auf den erlösenden Ausbruch, der sich dann recht subtil ereignet, bevor das Stück wieder in reine, wenngleich nun atemlose Rezitation mündet. Das auf einer Arbeit des ägyptischen Komponisten Sayyid Darwish basierende “Ya Nass (O People)”, in dessen vergleichsweise ambienter Struktur die Bouzouk besonders zur Geltung kommt, wirkt trotz rauer Momente vergleichweise kontemplativ.
Man könnte zu jedem Song viel schreiben, denn in jedem der Stücke offenbart das Album weitere Charakterzüge ihrer Mixtur aus Tradition und Innovation, aus Reginalem und Globalem – Züge, die sich oft interessanten (und niemals banal-plakativen) Kontrasten verdanken, durch die die durchaus auch im herkömmlichen Sinne reizvollen Melodien und Harmonien stets vor der Falle des nur-Schönen bewahrt werden. Im weniger textlastigen, aber keineswegs gesangsfreien “Shajar Al-Touti (The Mulberry Trees)” entfaltet sich ein von der Klangquelle her schwer ortbarer Goldregen vor einem rauen Hintergrund, in “Oulo La Emmo (Tell His Mother)” mit seinen kämferischen Trommelwirlbeln hält sich über drei Minuten das Gefühl einer (Un-)Ruhe vor dem (eigentlichen) Sturm, der rockige Takt, der sich die ganze Zeit über herauszukristallisieren scheint, bleibt aber im Hintergrund, entfaltet sich erst im schwindelerregenden Instrumentalstück “94″.
In den abschließenden Minuten macht sich mehr als zuvor eine angenehme Sanftheit bemerkbar, die atmosphärisch eher an Akzeptanz als an so etwas wie ein glückliches Emde erinnern mag. An ein solches mag man auch bei einem Titel wie “Mouathibatti (My Torturer)” nicht als erstes denken. In diesem Stück entfalten Stimme, bedächtige Drums und Saiten mit ihren fantasievollen Glissandi eine (trügerische?) Smoothness, die von einem Lachen quittiert wird, bevor der ganze Reigen im ambienten “Rings” seinen Schluss findet. (U.S.)
Label: Mais Um Discos