In den experimentelleren Formen des Rock – ganz gleich, ob man nun von Psychedelic, Kraut, Space oder Prog spricht – war das Interesse an epischen Erzählungen mit Scifi-Einschlag schon immer stark ausgeprägt. Bands wie die französischen Magma entwickelten mit dem Kobaïa-Mythos ganze eigene Welten, während Hawkwind treibenden Ritualismus mit interstellarer Mystik verbanden. Entsprechungen in allen Erzählmedien gab es zuhauf, allem voran natürlich in der Literatur. Ein prägnantes Beispiel für diese Tradition ist zudem Alejandro Jodorowskys legendärer Scifi-Comic “Der Incal”: Das Setting ist eine Zukunft, die nicht von moderner Technologie, sondern von magischen Strukturen, Prophezeiungen und zyklischen Erzählweisen geprägt ist. In eine ähnliche Richtung bewegt sich auch das japanische Trio Kuunatic mit seinem zweiten Album “Wheels of Ömon”, das sich als Erweiterung der bereits auf “Gate of Klüna” etablierten Mythologie versteht.
Kuunatic, bestehend aus Fumi Kikuchi (Keyboards), Shoko Yoshida (Bass) und die auch als Noise-Performerin bekannte Yuko Araki (Drums) lassen hier eine fiktive Welt voller prophetischer Figuren, ritueller Handlungen und transkultureller Verflechtungen entstehen. Die acht Stücke markieren jeweils einen Schlüsselmoment innerhalb eines 45stündigen Sonnenumlaufs des fiktiven Planeten Kuurandia, wodurch das Album einen dramaturgisch kohärenten Fluss erhält. Musikalisch erweitert die Band ihr Stamminstrumentarium merklich und setzt auf eine Mischung aus psychedelischem Rock, rituellen Rhythmen und traditionellen japanischen Elementen, wobei insbesondere historische Instrumente wie die Sho-Flöte oder Zimbeln aus der höfischen Gagakumusik dem Album einen einzigartigen Charakter verleihen.
Das Werk beginnt mit dem knapp achtminütigen Opener “Yew’s Path”. Ein akustisches Instrument eröffnet den Song mit einer hellen Melodie, bevor monumentale, raue Riffs einsetzen. Dazwischen sorgen metallen schimmernde Klänge für eine fernöstliche Anmutung, und das Zusammenspiel von knarrendem Bass, hymnischem Gesang und einer orientalisch geprägten Melodieführung erinnert an bestimmte Momente bei OM. Das Stück steigert sich zum Ende hin, das Tempo zieht an, und es entsteht fast ein kleiner musikalischer Klimax. Besonders eindrucksvoll sind hier die wiederkehrenden Zeilen “Follow the path, embrace the unknown”, die die rituelle Grundstimmung des Albums unterstreichen und zugleich die Reise in eine mythische Zukunft ankündigen. Generell scheinen mir die Songs von einem deutlichen Bewegungs-Charakter geprägt und erinnern immer wieder an eine kraftvolle Fahrt. “Mavya at The Lacus Yom” entfaltet eine filigrane, schwebende Atmosphäre, die zunächst hell und lichtdurchflutet wirkt wie eine von frischen Düften durchwehte Morgendämmerung. Doch unter der Oberfläche braut sich eine kraftvolle Energie zusammen, unterstützt durch sich verdichtende mehrstimmige Gesänge, die fast a cappella anmuten. Schließlich intensivieren sich Tempo und Dynamik, der Song nimmt einen rituellen Charakter an und vermittelt das Gefühl einer spirituellen Zeremonie, bei der Worte wie “The water speaks in echoes” wie ein Portal in eine ungekannte Dimension anmuten.
Einen Kontrast dazu bildet “Disembodied Ternion”, das mit einem aufweckenden Flötenton beginnt und sich rasant zu einem fast punkig geprägten, treibenden Stück entwickelt. Der Rhythmus ist ungestüm, die Basslinien knarzen, das Schlagzeug pumpt druckvoll nach vorne. In der zweiten Hälfte löst sich das Arrangement in einen diffusen Klangnebel auf, aus dem kämpferische Shouts herausbrechen – ein Moment, der die hymnischen Gesangslinien des Albums in eine fast bedrohliche Intensität überführt. “No shape, no form, yet I arise” – diese Zeile betont nicht nur das körperlose, geisterhafte Moment des Songs, sondern auch die zyklische Wiederkehr, die sich als Motiv durch das ganze Album zieht. Mit “Myth of Klüna”, dessen Titel eine Brücke zum Vorgängeralbum schlägt, lassen die Drei einen radikal anderen Ton anklingen. Dieses nur rund eine Minute lange Stück besticht durch seine elektrisierende, mantraartige Gesangsstruktur, die an eine rezitative Darbietung repetitiver, sakral anmutender Silben erinnert. “Whispers of old, voices untold” scheint hier wie eine Beschwörung zu wirken, ein Echo halbvergessener Geschichten, deren Widerhall in der Erzählgegenwart zu hören ist. “Yellow Serpent“ ist von japanischen Instrumenten geprägt und kombiniert den Klang eines psalterienartigen Saiteninstruments mit zurückhaltenden, aber groovigen Basslinien. Der Gesang ist fließend und tranceartig, während sphärische Synthies eine entrückte Atmosphäre erzeugen.
Eine besondere Facette des Albums zeigt sich in “Kuuminyo”, das in Zusammenarbeit mit der Ainu-Sängerin Rekpo entstand. Ihr hochtönender Gesang, begleitet von Handtrommeln, Klatschrhythmen und hölzernen Percussions, erschafft ein Bild archaischer, zeremonieller Musik. Es ist vielleicht das heiterste Stück des Albums, durch seine Wiederholungen fast beschwörend und aufweckend zugleich. “Halu Shanta” ist typisch für Kuunatic: Mehrstimmiger, hymnischer Gesang, bei dem ich ein weiteres Mal die österreichischen Postpunkerinnen von Astaron in Erinnerung rufen muss, trifft auf rituelle Percussion, doch nach und nach verschieben sich die musikalischen Hierarchien. Was zunächst als klangliche Kulisse erscheint, rückt mehr und mehr an den vorderen Bühnenrand, während sich der trancehaft-erhabene Gesang – “Chanting the stars, weaving the night” heißt es da, wie um das Schöpferische der eigenen Darbietung metapoetisch zu betonen – und die Instrumentierung immer stärker zu einer organisch anmutenden Klangmasse verweben.
Den Abschluss bildet “Syzygy and A Counter Truth”, ein Stück, das verspielt und gerade in seiner elektronischen Gestalt fast barock anmutet. Zunächst instrumental und von einer psychedelischen Offenheit geprägt, setzt schließlich verfremdeter, nach hinten gemischter Gesang ein. Das Stück bleibt bis zum Schluss offen und vermittelt den Eindruck eines musikalischen Cliffhangers. “Wheels of Ömon” zeigt eindrucksvoll, wie Kuunatic traditionelle japanische Elemente mit einem psychedelischen, rituellen Sound verbinden. Dabei gelingt es den Dreien, eine Balance zwischen archaischer Tiefe und futuristischer Weite zu schaffen – ein Konzept, das sich nicht nur musikalisch, sondern auch in der thematischen Gestaltung des Albums widerspiegelt. Die fiktive Welt Kuurandia ist durchdrungen von Prophezeiungen, zyklischen Strukturen und mythischen Figuren.
Diese Verknüpfung von Scifi-Elementen mit archaischen, spirituellen Motiven findet sich wie gesagt auch in anderen Werken mit Konzepten einer Zukunft, die nicht von technologischer Dominanz, sondern von verschleiertem Wissen, Ritualen und mythischen Zyklen geprägt ist. Kuunatic stehen somit in einer langen Tradition experimenteller Musik, die Zukunftsvisionen nicht als linear-technologischen Fortschritt, sondern als Wiederkehr uralter Strukturen begreift. Mit “Wheels of Ömon” setzen sie diese Linie konsequent fort und erschaffen eine Klangwelt, die gleichermaßen hypnotisch, erhaben und tief verwurzelt in einer Mythologie ist, deren fitive Stoffe sicher auch auf die eine oder andere historische Vorlage zurückgreift.
Label: Glitterbeat