Musikalische Communities, die sich an einem bestimmten Ort, um ein Label oder innerhalb eines Freundeskreises herausbilden, sind eine interessante Sache, v.a. wenn sich bei all den dort entstehenden Erzeugnissen ein roter Faden finden lässt – mehr allerdings noch, wenn dieser Faden nicht in oberflächlichen Merkmalen wie Genrezugehörigkeit oder bestimmten inhaltlichen Schwerpunkten zu finden ist, sondern irgendwie vage und doch spürbar in der Luft liegt.
Die “neue Garde”, die sich auf der vorliegenden Veröffentlichung präsentiert, besteht aus vier mittlerweile schon recht renommierten Acts, die alle in Katalonien beheimatet sind und meist in der einen oder anderen Form schon zusammen gearbeitet haben. Die musikalische Bandbreite der je drei Songs pro Band reicht von lärmigen Soundscapes bis hin zu eingängigem, melancholisch eingefärbtem Pop. Und dennoch gibt es eine tiefere, schwer greifbare Ebene, auf der die beteiligten Musiker mehr als nur freundschaftlich verbunden sind.
Coàgul, das rituelle Electro-Projekt des umtriebigen Marc O’Callaghan, eröffnet die Sammlung mit drei in unterschiedlichem Tempo nach vorn preschenden Tracks, die schon von den Titeln her – “Bandera Negra”, “Bandera Blanca”, “Bandera Vermella” – eine Art Triptychon bilden. Alle basieren auf Gesängen, die vermutlich von alten Platten gesamplet sind und in unterschiedlichen Graden verfremdet wurden. Einmal scheint es ein gemischter Chor zu sein, einmal ein launiges Volkslied und einmal ein trunkenes Mann-Frau-Duett. Ein kompromissloser, harscher Takt zwischen Downtempo und Noise-Stakkato setzt irgendwann ein und verbreitet zusammen mit weiteren Sprachsamples und sirenenhaften Synthies eine alarmistische Stimmung. O’Callaghans Gesang lugt dabei immer wieder zwischen den Soundbrocken hervor und betritt doch nie den vorderen Bühnenbereich. Man würde an den Stil von Bands wie Pankow denken, wären die Stücke songartiger, doch die zirkuläre Struktur verbreitet eine ganz eigene Hypnotik.
Mit Comando Suzie geht die Reise von Fuße des Tibidabo ins nördlich gelegene Terrassa, und musikalisch könnte der Bruch vom verzerrten, rhythmischen Ritualsound zu dem eingängigen Synthie-Wohlklang von Eva Grace und Raúl López nicht sein. Die harmonischen Klänge von “100 Copias” tendieren fast ein bisschen zum Lounge, López’ waviger Bariton singt eine berührende Melodie, in akzentuierten Momenten hört man weibliche Backing Vocals, und nur zwischen den Zeilen ist eine Abgeklärtheit zu spüren, in der sich vielleicht die Essenz des Stücks verbirgt. “Viernes Romántico”, der tanzbarste der drei CS-Songs, entfaltet ein noch breiteres Spektrum an schwermütiger Euphorie. Aus der Reihe tanzt der martialische Kracher “Como la Luna” mit seinen Snaredrum-Wirbeln und seinen kühlen Shouts über Könige und Soldaten, den man beinahe für einen Kommentar zur jüngeren politischen Situation des Landes halten könnte. Trotz seines dramatischen Textes ist der Song ein Kinderlied aus dem 18. Jahrhundert, das hier auf eine surreale Art – man meint im Hintergrund die Mad Woman in the Attic Charlotte Brontës zu hören – zu sich selbst gekommen scheint.
Die zweite Seite von “La Nueva Guardia” ist zwei Musikern vorbehalten, die ohnehin stark verbrüdert sind. Sergio Mendez alias Escama Serrada und Ô Paradis-Sänger Demian leben beide im beschaulichen L’Amettla del Vallès und unterstützen sich seit Jahren bei Aufnahmen, und die bei Tourette erschienene Doppel-EP ließ die beiden bereits wie zwei Kehrseiten einer Medaille erscheinen. Rein stilistisch ist ihre Musik aber recht unterschiedlich.
Im introhaften “Ansiedad” Escama Serradas huschen diverse Klangfragmente durch den Raum, aufwühlende Detonationen lösen sich auf in vibrierenden Raumklangspielereien, und im sich stetig steigernden Pulsieren macht sich ein leichter Anflug von etwas Organischem vor der kühl maschinellen Kulisse bemerkbar. Mendez Projekt ist im Schnitt das “experimentellste” der hier vertretenen, fast überrascht es deshalb, dass im folgenden “Antisocial” Takte nach Cold Wave-Art und gewollt leiernder, schwermütiger Gesang anklingen. Das rauere und eisige “El Frio Suelo”, das bereits wie ein Finale wirkt, steigert all dies noch, konterkariert die verrauschten Vocals und die Downtempo-Rhythmen aber gegen Ende mit dem “folkigen” Mandolinen-Gastspiel von Léo a.k.a. Niedowierzanie.
Bei dem fast aggressiven, elektronischen Dröhnen zu Beginn von “Pasado” fragt sich der eine oder andere vielleicht, ob das wirklich Ô Paradis ist, der natürlich schon früher (“La Boca del Infierno” ist nur ein Beispiel) nicht nur sanft und eingängig klang. Wenn sich erst der entspannte Triphop-Takt und Demians warme Stimme bemerkbar machen, ist der magische Realismus des international vielleicht bekanntesten der vier Projekte kaum mehr zu verkennen. Die drei Stücke bilden eine kleine Zeitreise, und das zentrale “Presente” scheint mir der Höhepunkt zu sein – aufgewühltes Synthiewabern wie aus einer anderen Welt, grobkörnige Flächen und ein altmodischer Harmoniumklang kreieren ein hypnotisch entrücktes Hier und Jetzt, in dem ich gern verweilen würde. “Futuro” gibt mit fatalistischem Gesang, einer verwehten Pianospur und hintergründigem Rumoren einen offenen und ehrlich anmutenden Ausblick und Ausklang.
Ein gewisser Fatalismus, eine Schwermut, die doch immer vital daherkommt und in eine verhaltene Lebensfreude getaucht ist – vielleicht ist dies, mehr noch als der eine oder andere raue Flächensound, der sich in allen Beiträgen findet, das am meisten verbindende Element. Mit etwas Fantasie könnte man es “die perfekte Mischung aus Apokalypse und Dolce Vita nennen”, ein Slogan, mit dem Alexander Götzke einmal im Equinoxe Magazin die Musik von Nový Svět beschrieb.
Ich erwähne die Wiener Band, die selbst ein paar Jahre in L’Amettla residierte, nicht grundlos, denn in den Treppenhäusern des Untergrunds hat sich ohnehin schon das Gerücht verbreitet, dass die Liebe aller Beteiligten zu Nový Svět die Veröffentlichung wie mit einem unsichtbaren Band zusammenhält. Nový Svět, die musikalisch immer schwer greifbar waren und so vielgestaltig wie die hier vertretenen Stücke, standen und stehen mit allen dieser neuen Garde im Kontakt. Zusammen mit Ô Paradis entstanden seinerzeit zwei gemeinsame Alben, wiederholt gab es Gastspiele auf den jeweiligen Platten, selbst in den letzten Jahren, in dem die Wiener eine zwar immer noch rege, aber dennoch merkwürdig geisterhafte Existenz führen. Von Coàgul erschien ein Tape auf Nekofutschata, dem Hauslabel der Band. Alle hier betrachten die Wiener als wichtigen Einfluss für ihr eigenes Schaffen, und u.a. waren es auch Nový Svět, welche die katalonische Musikszene auch überregional etwas bekannter gemacht haben.
Für Neueinsteiger mag dies eine Fußnote sein, aber es ist in jedem Fall eine, der es nachzugehen lohnt, und auch von der vier Bands auf “La Nueva Guardia” gibt es einiges zu entdecken. Einen besseren Einstieg als das vorliegende Album dürfte es wohl nicht geben. (U.S.)
Label: Nøvak Records