Umbrüche und Richtungswechsel hat es in der Diskografie von Current 93 immer wieder gegeben, aber rückblickend fällt dies besonders ins Auge, wenn man die Jahre um 1990 betracht, als viele kaum einzuschätzen wussten, in welche Richtung es mit David Tibet und seinen musikalischen Begleitern in den nächsten Jahren wohl gehen könnte. Das hatte natürlich auch damit zu tun, dass man zu dieser Zeit Current 93 einfach noch nicht jahrzehntelang kennen konnte und dass das Frühwerk der 80er Jahre noch relativ homogen war, aber es gab auch gerade in dieser Zeit besonders viele stilistische “Ungereimtheiten”.
Dass folkige Songstrukturen im Kosmos Tibets keine einmaligen Ausrutscher waren, ahnte man irgendwann, dennoch erschienen auch in dieser Zeit noch experimenteller ausgerichtete Arbeiten, wenngleich diese meist älter waren wie z.B. “The Dreammoves Of The Sleeping King” auf der CD-Version von “Earth Covers Earth”. 1992 beispielsweise folgte mit “Thunder Perfect Mind”, das einmal eines der größten Dark Folk-Referenzalben werden sollte, eines der zumindest hinsichtlich der Mehrheit der Songs eingängigsten Current 93-Alben auf den abstrakten psychedelischen Ambient von “The Sadness of Things”, das als Kollaboration mit Stephen Stapleton konzipiert war.
In genau diese Phase fiel auch die Veröffentlichung von “Island”, das tatsächlich auf der nordatlantischen Insel aufgenommen wurde und bei dem der Komponist Hilmar Örn Hilmarsson (HÖH) eine so große Rolle spielte, dass er im Unterschied zu den anderen Mitwirkenden auch als Interpret genannt wurde. Ihm verdankt sich auch, dass das Album von der instrumentalen Seite her einen Sound bekam, der in Tibets Diskografie für lange Zeit einzigartig bleiben sollte. Dominiert wird die Musik, von der ein Teil des Grundmaterials in anderer Form auch in Hilmarssons melancholischem Soundtrack zum Filmdrama Children of Nature Verwendung fand, von einem fast poptauglichen, aber meist ambient umgesetzten Keyboardsound, der die Signatur seiner Zeit trägt und sich weder um Rauheit bemüht, noch darum, organischer zu klingen als er war. Zusammen mit Tibet und den anderen Musikern hat Hilmarsson diesen aber zu einem Rahmen gestaltet, in dem die unterschiedlichsten Dinge stattfinden konnten, und so klang – vielleicht auch, weil das Material über einen längeren Zeitraum hinweg während verschiedener Islandreisen – am Ende kein Stück wie das nächste.
Wenn man sich schon etwas intensiver durch die Arbeiten von Current 93 gehört hat, dann fällt vielleicht auf, dass “Island” eines der wenigen Alben ist, die ohne ein vorspannartiges Intro auskommen. Vielmehr fällt man sprichwörtlich beim eröffnenden “Falling” ohne einleitendes Brimborium in eine von Handdrums und warmen Klangflächen beschallte nordische Parallelwelt, in deren halllastigem Soundsetting man sich so gemütlich fühlen kann wie in einem gut geheizten Haus mit Blick in eine winterliche Nacht. Einige Schreiber sprachen damals nicht ganz willkürlich von einer Weihnachtsplatte, von einer Schlagseite in Richtung New Age war die Rede und irgendwer zog sogar einen Vergleich zu Enya, doch dabei sollten einen das Erlöschen aller Sinneswahrnehmung und letztlich des Universums in Tibets Text aufhorchen lassen. Eine der beiden Sängerinnen, die hier zusammen mit ihm zu hören sind, ist Björk, deren Solokarriere in Pop-Dimensionen damals noch ein paar Jahre auf sich warten lassen sollte.
Es gibt einige Songs auf dem Album, bei denen die heimelige Seite besonders betont wird. Dazu zählt besonders – und v.a. im Kontrast zu dem verstörenden Text – die Version von “Fields of Rape”, das endzeitliche “To Blackened Earth” und auch das mit seinem chorartigen Background-Gesang großartige “Oh Merry-Go-Round”. “A Dream of a Shadow of Smoke” bewegt sich ebenfalls in dieser Stimmung und geht doch darüber hinaus: Nicht aufgrund der Vanitas-Symbolik des von dem Theologen Jeremy Taylor inspirierten Textes, der zu angenehm plätschernden Rhythmen und entrückten Synthietupfern die Existenz als halluzinierten Trip beschreibt und nur Asche und Staub real erscheinen lässt, denn dies sind Motive, die sich in unterschiedlicher Deutlichkeit durch das ganze Album ziehen. Eher weil all dies zum Höhepunkt des Stücks, wenn die zusammen mit Tibet singende Ása Hlín Svavarsdóttir vom “sound of rudderless ships” singt, ins Hymnenhafte ausgeweitet wird.
Um einiges weniger anheimelnd, dafür von einer erhabenen Dramatik sind Stücke wie “Passing Horses”, die von unheilschwangeren Orchestralsynthies untermalte Version von “Lament for my Suzanne” und “Anyway, People Die”. Gerade letzteres, von dem später auch eine kurze Akustikversion auftauchen sollte, ist mit seiner dunklen Dröhnung, für die Hilmarsson das abgründigste Grollen aus dem eigentlich so angenehmen Sound herausholt, und seinen rituellen Glöckchen der Höhepunkt des Albums. Das Bimmeln stammt hier von dem buddhistischen Lama Rig’dzin Rinpoche, von dem Tibet bereits eine längere Rezitation auf CD herausgebracht hatte. An der Stelle kann man hervorheben, dass neben den schon damals wichtigen Bildern und Denkfiguren christlicher Esoterik auch immer wieder Einflüsse buddhistischer Philosophie in den Texten zu finden waren, wobei Tibet mehr an den kosmologischen und eschatologischen Fragen interessiert zu sein schien als am Ethos. Erst Mitte der 90er waren diese Aspekte nicht mehr spürbar.
Während die ursprüngliche LP mit “Oh Merry-Go-Round” endet, enthielt bereits die damalsige CD-Version fünf weitere Songs, die man trotz weiterer knapp 25 Minuten Musik eher als Bonusmaterial betrachten sollte, denn die zusätzlichen Stücke weichen musikalische z.T. stark vom Stil des Albums ab und lassen zudem eine erkennbare Richtung vermissen. “Crowleymass Unveiled” ist eine Neufassung des 1987 auf einer EP erschienenen “Crowleymass”, das mit seinem Text über eine Weihnachtstravestie für im Geiste Thelemas erzogene Kinder ganz unterhaltsam ist, gleichwohl es musikalisch etwas an eine EBM-Band erinnert, die sich im Rap versucht. Der Song war als Jux gemeint, und ähnliches gilt vielleicht auch für “Paperback Honey”, bei dem Tibet zu Bossa Nova-Musik singt. “The Fall of Christopher Robin” dagegen, in dem der Junge aus A. A. Milnes Winnie-the-Pooh-Geschichten einen Teufelspakt eingeht, hat mit seinem manischen Sprechgesang durchaus beklemmende Seiten und ist wahrscheinlich für viele der relevanteste unter den Bonustracks. Das von Einar Örn auf Islandisch gesungene “Fields of Rape and Smoke” und die Instrumentalversion “Merry-Go-Round And Around” runden dann auch die CD im Geiste des Kernalbums ab.
Genau dieses wurde nun, wie sich in Fankreisen sicher umfassen herumgesprochen haben sollte, neu aufgelegt und erscheint zur Freude so mancher in Kürze auf Vinyl – ein im Grunde lange überfälliges Projekt, denn “Island” ist, unabhängig davon, wie man es im ganzen beurteilt, ein Ausnahmealbum in der Diskographie Tibets und auch Hilmarssons. Im Interview, das wir vor einigen Jahren mit Hilmarsson führten, erwähnte dieser das damals geplante zweite gemeinsame Album, das dann letztlich aber niemals realisiert wurde. Eine Art Entschädigung dafür könnte vielleicht das Album von Tibets Projekt Hypnopazuzu sein, das ein Vierteljahrhundert später mit leicht anderer Instumentierung eine in Teilen ähnliche Atmosphäre erzeugte. Doch wirklich klingen wie “Island” kann vielleicht nur “Island” selbst. (U.S.)
Label: House of Mythology